Full text: Auswahl deutscher Gedichte

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stimme ertöônte: „Auf, Odipus, saume nicht langer!“ Nur Theseus 
blieb zuruck und schaute das Wunder, durch welches der 
lebensmude Dulder der Erde entrückt ward. Rein Blitzstrahl 
fuhr auf ihn nieder, kein jaher Sturmwind trug ihn von dannen, 
ssondern in lautloser Stille tat sich die dunkle Schwelle der 
Unterwelt fur ihn auf, und ohne Schmerz und Seufzer wurde 
er, ausgesöhnt mit den strengen Schicksalsmachten, in die 
ewige Ruhe des heiligen Schattenreiches aufgenommen. 
Nach J. C. Andra und G. Schwab. 
30. Entigone. 
ach der Vertreibung des Odipus aus Theben waren 
seine Sohne Polyneikes und Etéokles ubereingekom- 
men, Jahr um Jahr abwechselnd die Herrschaft zu 
fuhren. Als der Erstgeborene wurde zunachst Polyneikes 
sKonig; aber noch ehe sein Jahr abgelaufen war, trieb ihn der 
herrsehsuchtige Bruder aus dem Lande. Bald jedoch kehrte 
der Vertriebene mit großer Heeresmacht zuruck und belagerte 
die Stadt. Nach langem, unentschiedenem Kampfe beschlot 
man, die beiden streitenden Bruder sollten durch einen Zwei- 
10 kampf den Zwist entscheiden. Dies geschah auch, aber in 
dem Kampfe töteten sich die Brũder gegenseitig; zugleich 
brachen die Thebaner aus der Stadt hervor und schlugen 
die Belagerer vollstandig. 
Xcrxeon, der jetzt die Herrschast ubernahm, ließ den Konig 
15 Eteokles, weil er fur die Verteidigung der Stadt gefallen sei, 
chrenvoll bestatten; der Leiche des Polyneikes aber versagte 
qlese Ehre, weil er fremdes Kriegsvolk in das Land ge- 
fuhrt und seine Vaterstadt mit Zerstõrung bedroht habe. Unbe- 
graben und unbeweint — so ließ Kreon durceh Herolde õffent- 
ꝛo ĩch ausrufen — sollte der Leichnam des Verfluchten auf dem 
Felde liegen bleiben, den Raubvõgeln und Hunden zum Fraße; 
wer ihn hinwegnahme, um ihn zu bestatten, der sollte vor aller 
Augen den Tod durch Steinigung erleiden. 
Dieses grausame Gebot des Kõônigs vernahm Antigone, 
a6 die Schwester des gefallenen Bruderpaares, mit tiefem Ent· 
Fuen. Die edle Jungfrau war, nachdem sie voll frommer 
RKindesliebe den blinden Vater ins Elend der Verbannung be·
	        
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