Full text: Deutsche Dichter und Prosaiker (Teil 5, [Schülerbd.])

46 
2. Per. 3. Zeitr. Nikolaus Baumann. 
Stracks redete der tapfre Hahn, 
Wie folgt, den König Nobel an: 
„Erhört, gestrenger Herr, mich Armen, 
Und laßt den Schaden Euch erbarmen, 
Den Reineke, der Bösewicht, 
Mir und den Meinen zugefügt. 
Kaum war der Winter jüngst ver¬ 
gangen, 
Und man sah Wald und Wiese prangen 
Und Kraut und Blume lieblich blühn, 
Da ward auch mir recht froh zu Sinn, 
Mein junges Volk um mich zu sehn, 
Denn flinker Söhne hatte ich zehn 
Und Töchter vierzehn an der Zahl, 
Voll Lust zu leben allzumal, 
Die mir mein kluges Weib erzogen 
In einem Sommer. Alle flogen 
Und schwärmten fröhlich um mich her 
Im Klosterhof, der war zur Wehr 
Mit hohen Mauern fest gemacht 
Und von sechs starken Hunden bewacht; 
Die halten meine Kinder lieb, 
Und Reinke, der verschmitzte Dieb, 
Wußt' lange Zeit nichts zu ersinnen, 
Um ihnen etwas abzugewinnen. 
Oft schlich er um die Klostermauern 
Bei Nacht herum, uns aufzulauern; 
Doch witterten die Hunde ihn, 
So mußt' er immer schnell entfliehn. 
Einst hatten sie ihn zwischen sich 
Und rupften ihn so grimmiglich, 
Daß er die Flucht in Ängsten nahm 
Und lange Zeit nicht wiederkam. 
Allein, wie ging's uns, gnäd'ger 
Herr? 
Jüngst kam er als ein Kläusener 
Mit einem Briefe in der Hand, 
Worunter Euer Siegel stand. 
Durch diesen Brief gebotet Ihr 
Den Frieden jedem Vogel und Tier. 
Er sprach, er wär' jetzt Mönch geworden 
In einem von den strengsten Orden, 
Woselbst er ernstlich büßen wollte, 
Daher ich mich nicht fürchten sollte; 
Denn vor ihm könnt' ich sicher leben, 
Weil er des Fleisches sich begeben. 
Er zeigt' auch Kult' und Skapulier 
Und einen Brief vom Prior mir 
Und auf der Haut ein Kleid von Haar, 
So daß ich ganz beruhigt war. 
Drauf ging er fort und grüßte mich, 
Sprach: „Gott, dem Herrn, besehl' 
ich dich; 
Denn ich muß jetzt mein Amt verwesen 
Und Sexte, Non' und Vesper lesen." 
Hierauf entfernt' er sich zum Schein, 
Damit ich möchte sorglos sein. 
Ich eilte stracks mit frohem Sinn 
Zu meinen lieben Kindern hin, 
Die guten Dinge zu verkünden, 
Die in dem offnen Briefe stünden, 
Und daß jetzt Reineke nicht mehr 
Als Mönch für uns gefährlich wär'. 
Wir wagtenunsausdemGemäuer, 
Da traf uns böses Abenteuer; 
Denn Reinke wußte in den Hecken 
Sich vor uns listig zu verstecken, 
Kam aber schleichend uns zuvor 
Und unterlief uns unser Thor, 
Nahm meiner Kinder eins beim Nacken, 
Fuhr fort ein zweites anzupacken; 
Und seitdem sichern weder Hunde, 
Noch Mauern uns zu keiner Stunde. 
Er kehrt sich nicht an Hut und Wacht, 
Er paßt uns auf bei Tag und Nacht, 
Raubt, würgt und mordet meine 
Kinder, 
Und ihre Zahl wird täglich minder; 
Zwanzig und vier hab' ich gehabt, 
Die hat er mir schon weggeschnappt 
Bis auf die letzten fünf; nicht mehr 
Sind mir jetzt übrig, gnäd'ger Herr. 
Erst gestern haben unsre Hunde 
Dem Räuber in der Abendstunde 
Mein Töchterchen (Gott sei's geklagt!) 
Am Hals' erwürget, abgejagt. 
Hier seht Ihr, was er ihr gethan; 
NehmtEuch doch meines Jammers an!" 
Der König sprach: „Herr Dachs, 
kommt her! 
Seht Ihr jetzt, wie der Kläusener, 
Eu'r Ohm, büßt und sich kasteit? 
Leb' ich ein Jahr, so wird's ihm leid. 
Macht mir nur nicht viel Worte mehr. 
HahnHennig, kommt jetzt mit mir her! 
Für deine Tochter, das gute Huhn, 
Soll man, was Totenrecht ist, thun; 
Man soll für sie Vigilien singen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.