Full text: [[3] = Oberstufe, [Schülerbd.]] ([3] = Oberstufe, [Schülerbd.])

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Der Herr aber, der daneben am Stamme der alten Linde 
lehnte, hatte gesehen, wie die verstümmelte Hand die Thränen ab— 
wischte, damit das Auge der Welt die Spuren nicht sähe. Es war, 
als ob die Thränen wie siedend heiße Tropfen dem Herrn auf das 
Herz gefallen waren, so rasch trät er herzu, reichte dem Alten ein 
Goldstück und sagte: ‚„Leihet mir eure Geige ein Stündchen!“ Der 
Alte sah voll Dankes den Herrn an, der mit der deutschen Sprache 
so holperig umging wie erñ mit der Geige. Was er aber wollte, 
verstand der Invalide doch und reichte ihm seine Geige. Sie war 
nun so schlecht nicht; nur der gewöhnliche Geiger kraätzte so übel. 
Er stimmte sie glockenrein, stellte sich darauf ganz nahe zu dem 
Invaliden und sägte: „Kollege, nun nehmt ihr das Geld, und ich 
spiele!“ — Der fing denn nun an zu spielen, daß der Alte seine 
Geige neugierig betrachtete und meinte, sie sei es gar nicht mehr; 
denn der Ton ging wunderbar in die Seele, und die Töne rannen 
wie Perlen dahin. Manchmal war's, als jubilierten Engelstimmen 
in der Geige, und dann wieder, als klagten Töne schweren Leides aus 
ihr heraus, die das Herz so bewegten, daß die Augen feucht wurden. 
Jetzt blieben die Leute stehen und sahen den stattlichen Herrn 
an und horchten auf die wundervollen Töne; jedermann sah's, der 
Herr geigte für den Armen, aber niemand kannte Immer 
größer wurde der Kreis der Zuhörer. Selbst die Kutschen der 
Vornehmen hielten an. Und was die uuhe war, jedermann 
sah ein, was der kunstreiche Fremde beabsichtigte, und gab reichlich. 
Dä fiel Gold und Silber in den Hut und auch Kupfer, je nachdem 
die Leute hatten, und je nachdem das Herz war. Der Pudel knurrte. 
War's Plaͤsier oder ÄArger? Er konnte den Hut nicht mehr halten, 
so schwer war er geworden. „Macht ihn leer, Alter!“ riefen die 
Leute dem Invaliden zu, „er wird noch einmal voll!“ Der Alte 
that's, und richtig! er mußte ihn noch einmal leeren in seinen Sack, 
in den er die Violine zu stecken pflegte. Der Fremde stand da mit 
leuchtenden Augen und spielte, daß ein Bravo über das andere er— 
schallte. Alle Welt war entzückt. Endlich ging der Geiger in die 
prächtige Melodie des Liedes: „Gott erhalte Franz den Kaiser!“ 
über. Alle Hüte und Mützen flogen von den Köpfen; denn die 
Ostreicher liebten ihren edlen Kaiser Franz von ganzem Herzen, 
und er verdiente es auch; allgemach wurde der Volksjubel so groß, 
daß plötzlich alle Leute das Lied sangen. Der Geiger spielte in der 
groößten Begeisterung, bis das Lied zu Ende war; dann legte er 
kasch die Geige in des glücklichen Invaliden Schoß, und ehe der 
alte Mann ein Wort des Dankes sagen konnte, war er fort. 
„Wer war das?“ rief das Volk. — Da trat ein Herr vor 
und sagte: „Ich kenne ihn sehr wohl; es war der ausgezeichnete 
Geiger Alexander Boucher, welcher hier seine große Kunst im 
Dienste der Barmherzigkeit übte. Laßt uns aber auch sein edles 
Beispiel nicht vergessen.“ 
Der Herr hielt seinen Hut hin, und aufs neue flogen Sechs— 
bätzner in den Hut des Herrn, der diesmal für den Invaliden
	        
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