Full text: [[3] = Oberstufe, [Schülerbd.]] ([3] = Oberstufe, [Schülerbd.])

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tausendfältige Elend und Herzeleid, das in der Welt ist und die 
armen Menschen martert und quält, und ist niemand, der helfen 
kann. Und du wirst finden, Andres, wenn die Thränen nicht vor— 
her gekommen sind, hier kommen sie gewiß, und man kann sich so 
herzlich heraussehnen und in sich so betrübt und niedergeschlagen 
werden, als ob gar keine Hülfe wäͤre. Denn muß man sich aber 
wieder Mut machen, die Hand auf den Mund legen und wie im 
Triumph fortfahren: 
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Macht und die 
Herrlichkeit in Ewigkeit, amen! Matthias Claudius. 
55. Der gerettete Jüngling. 
Eine schöne Menschenseele finden 
ist Gewinn; ein schönerer Gewinn ist, 
sie erhalten, und der schönst' und schwerste, 
sie, die schon verloren war, zu retten. 
Sankt Johannes, aus dem öden Pathmos 
wiederkehrend, war, was er gewesen, 
seiner Herden Hirt. Er ordnet' ihnen 
Wächter, auf ihr Innerstes aufmerksam. 
In der Menge sah er einen schönen 
Jüngling; fröhliche Gesundheit glänzte 
vom Gesicht ihm, und aus seinen Augen 
sprach die liebevollste Feuerseele. 
„Diesen Jüngling,“ sprach er zu dem Bischof, 
„nimm in deine Hut. Mit deiner Treue 
stehst du mir für ihn; — hierüber zeuge 
mir und dir vor Christo die Gemeine.“ 
Und der Bischof nahm den Jüngling zu sich, 
unterwies ihn, sah die schönsten Früchte 
in ihm blühn, und weil er ihm vertraute, 
ließ er nach von seiner strengen Aufsicht. 
Und die Freiheit war ein Netz des Jünglings; 
angelockt von süßen Schmeicheleien, 
ward er müßig, kostete die Wollust, 
dann den Reiz des fröhlichen Betruges, 
dann der Herrschaft Reiz; er sammelt' um sich 
seine Spielgesellen und mit ihnen 
zog er in den Wald, ein Haupt der Räuber. 
Als Johannes in die Gegend wieder 
kam; die erste Frag' an ihren Bischof 
war: „Vo ist mein Sohn?“ — „Er ist gestorben!“ 
sprach der Greis und schlug die Augen nieder. 
„Wann und wie?“ — „Er ist Gott abgestorben! 
ist (mit Thränen sag' ich es) ein Räuber.“
	        
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