Heinrich von Kleist: An die Königin (Luise) von Preußen. 225
6. An die Königin (Luise) von Preußen.
Heinrich von Kleist. Werke. Leipzig o. I. II, S. 466.
.Erwäg' ich, wie in jenen Schreckenstagen*)
Still deine Brust verschlossen, was sie litt2);
Wie du das Unglück mit der Grazie Tritt
Auf jungen Schultern herrlich hast getragen3);
Wie von des Kriegs zerrissnem Schlachtenwagen^)
Selbst oft die Schar der Männer zu dir schritt;
Wie trotz der Wunde, die dein Herz durchschnitt5),
Du stets der Hoffnung Fahn' uns vorgetragen:
O Herrscherin, die Zeit dann möcht' ich segnen! 6)
Wir sahn dich Anmut endlos niederregnen,
Wie groß du warst, das ahneten wir nicht!
Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir unschimmert;
Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert,
Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht.
1. Erläuterungen. 1) Von der Schlacht bei Jena bis zum
Frieden von Tilsit. 2) Um den König zu beruhigen und anderen Mut
einzuflößen, zeigte sie ein heiteres Antlitz, wenn auch das Herz blutete.
3) Wie eine „Göttin der Anmut" trug sie stark und treu das herbste
Geschick. Der Ausdruck „herrlich" fehlt im Originale. 4) Bild für Nieder¬
lagen. Selbst wenn den Kriegern der Mut entsank, sie hielt die Fahne
der Hoffnung mutig empor. 5) In Schwedt sprach sie nach dem Unglücks¬
tage von Jena zu ihren Kindern: „Ihr seht mich in Thränen; ich beweine
den Untergang der Armee. — Es giebt keinen preußischen Staat, keine
preußische Armee, keinen Nationalruhm mehr. — Weinet meinem An¬
denken Thränen, aber begnügt euch nicht mit Thränen allein! Handelt!
Entwickelt eure Kräfte! Befreit euer Volk von der Schande!" 6) Die Zeit
der Trübsal, die solche Tugend und Seelengröße offenbarte.
2. Gedankengang. a) Schweigend und voll Anmut trugst du
das Unglück (V. 1—4). b) Durch Blick und Wort hobst du Mut und
Hoffnung in den besiegten Kriegern, wenn dir selbst dabei auch das Herz
blutete (V. 5—8). c) Die Zeit der Trübsal hat deine unendliche An¬
mut und Seelengröße voll und ganz gezeigt (V. 9—11). d) Du warst
uns ein strahlender Stern, der verheißungsvoll durch Wetterwolken
leuchtete (V. 12—14).
3. Grundgedanke. Das Unglück läutert edle Seelen, stärkt ihren
Mut, mehrt ibre Anmut und macht sie zu einem Hoffnungsstern für andere.
4. A u f g a b e n. a) Erzähle, was aus der Geschichte in diesem
schönen Sonett angedeutet ist! b) Welche Verwandtschaft besteht zwischen
A, B und C? P.
46. A. Auf den Tod der Königin.
Den 19. Julius 1810.
(M. v. Schenkendorf. Gedichte. 4. Aufl. Stuttgart 1871. S- 21.)
Nicht diese Stunde nur, sie starb viel lange Tage,
Und jeder war des Todes wert. Klopstock.
1. Rose, schöne Königsrose, Gilt kein Beten mehr, kein Hoffen
Hat auch dich der Sturm getroffen? Bei dem schreckenvollen Lose?
Aus deutschen Lesebüchern. Bd. III. 4. Aufl. 15