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zusammengerollten Fahnen und ohne Trommelschlag zogen die rus¬
sischen Truppen durch die stille Hauptstadt. Der größte Teil der
noch übrigen Bevölkerung schloß sich mit dem Befehlshaber der
Stadt, Grafen Rostopschin, dem düsteren Zuge an.
Am 14. September erblickten die Franzosen von der Höhe eines
Berges die ehrwürdige Stadt, das Jerusalem des Nordens, und
der Freudenruf: „Moskau! Moskau!" durchlief die Reihen. Moskau
erschien so glänzend und gebietend wie sonst. Die Türme seiner
dreihundert Kirchen und deren goldene Kuppeln funkelten im Scheine
der Sonne; seine zauberischen Paläste ruheten in Baumpflanzung¬
en und Gärten, und majestätisch stieg der Kreml, die Burg der
^aren, mitten aus diesem Walde von Gebäuden und Pflanzungen
empor. „Da ist denn endlich die berühmte Stadt!" rief Napoleon
voll Entzücken und setzte seine Heeresmassen in Bewegung.
Am 15. September langte er vor den Thoren an; sie standen
offen. Erstaunt harrte er mit seinen Marschüllen, ob nicht die Be¬
hörden zu einem feierlichen Empfang, ob nicht eine schaulustige
Volksmenge herauskommen würde; — niemand erschien! Eine schauer¬
liche Grabesstille lag über der ganzen ungeheuren Stadt. End¬
lich nachdem er zwei Stunden vergebens gewartet hatte, zog er ein.
Die Straßen waren öde, alle Thüren verrammt, alle Fenster durch
Läden dicht geschlossen, alle Gewölbe und Buden gesperrt und ver¬
riegelt. Schon in der folgenden Nacht stiegen an mehreren Stellen
der Stadt lichte Flammen auf. Alle Löschwerke hatte Rostopschin
fortgeführt, überall brennbare Stoffe verteilt, auch die Gefangenen
zu diesem Zwecke losgelassen. Anfangs achteten die Franzosen die¬
ses Brandes wenig; manche schürten noch die Glut in zerstörendem
Unwillen. Am 18. September erhob sich ein wütender Sturm,
und an hundert und hundert Stellen schlug die Flamme prasselnd
himmelan, so daß innerhalb weniger Stunden ganz Moskau einem
unabsehbaren, wogenden Feuermeere glich. Fürchterlich war das Ge¬
töse und Gedränge der Menschen und Tiere, das Wutgeschrei der
Sieger, die Angst der Fliehenden, das Geächze der Sterbenden,
während in den prasselnden Flammen die Dachgiebel krachend zu¬
sammenstürzten^ und das Blei von den Türmen zischend herunter¬
stoß. Selbst nach dem Kreml, in welchem sich der Kaiser befand,
wälzte sich die vom Sturm getragene Flamme. Da rief er voll