Full text: [Teil 4, [Schülerbd.]] (Teil 4, [Schülerbd.])

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6. Das Gras. 
(Betrachtung.) 
Wunderbar fröhlich wird es mir im Herzen, wenn ich einen 
schönen Rasen sehe. Es ist unbeschreiblich, wie ich das grüne Gras 
liebe; keine Pflanze, keine Blume liebe ich so herzig, so mit wahrer 
Seelensreude, als das grüne Gras. Zuweilen kann ich gar nicht müde 
werden, es anzusehen und mich daran zu ergötzen, und wenn ich es 
ansehe, dann fteue ich mich recht, daß ich aus der Erde bin. — Ein 
grasreicher Boden und ein blauer Himmel — das ist meine höchste 
Herrlichkeit. 
Schon in der Kindheit that es mir wohl, in der Bibel das Gras 
zu finden. Mit welcher Wonne las ich: „Und der Herr sprach: Die 
Erde lasse ausgehen Gras und Kraut, und die Erde ließ ausgehen Gras 
und Kraut!" Wie ging mir die Stelle ins Herz: „So doch Gott 
das Gras auf dem Felde kleidet!" Kaum vermochte ich mir Gott in 
einer rührenderen Beziehung zu denken, als wie er das Gras aus dem 
Felde kleidet. 
Es ist nicht bloß das frische, dem Auge so erquickliche Grün, die 
Farbe der Hoffnung, die ich an dem Grase liebe. Es sprießt so üppig; 
der Segen des Himmels ist so recht an ihm sichtbar; es ist in so 
reicher Fülle vorhanden; wo nichts Anderes mehr fortkommt, da ge¬ 
deiht doch oft das Gras noch, ein Bild des wohlthätigen Überflusses 
und ein Pfand jener milden Gabe der Natur. 
Das Gras erfrischt sich zuerst und am meisten, wenn nach langer 
Dürre die fruchtbaren Tropfen fallen. Vor allem andern ergrünt im 
Frühling das Gras. Das erste grüne Gras an warmen, quelligen 
Plätzen, wie erfreut es bis ins innerste Herz. Die Perlen des Taues 
glänzen am zahlreichsten im grünen Grase. 
Das Gras bekleidet so freundlich die mütterliche Erde. Wo nur 
Gras wächst, fühle ich mich daheim, selbst geschieden von allem, was 
mich sonst vertraulich umgiebt. Wo kein Gras wächst, o, wie öde 
und traurig! Was auch immer die Kunst da gethan habe, der Fluch 
scheint aus der Stelle zu ruhen, wo kein Gras gedeiht. Das weiche 
Gras bettet sich dem Müden, der keine andere Ruhestätte hat, zum er¬ 
quickenden Schlummer. Aus dem Grase blinken die lieblichen Quellen; 
durch blumenreiches Gras rieseln die fröhlichen Bäche, und die holdesten 
Kinder der Natur blühen im Grase. In der Jugend war das Gras 
uiir Spiel- und Tummelplatz. Im Grase pflückte ich die Blumen. 
Das Gras bedeckt auch die Gräber unserer Toten; und o, wie wert 
ist es mir da! Unter den begrasten Hügeln muß es sanft sich ruhen. 
Einst aus mein Grab — keine Blumen, nur grünes Gras, dieses Bild 
des Lebens und der Hoffnung. F'r. Ehrenberg. 
7. Geschichte eines Strohhalms. 
(Von ihm selbst erzählt.) 
Du wunderst dich, lieber Mensch, und hältst es schier für Anmaßung, 
daß ich dir meine Geschichte erzählen will; denn du meinst, ein Stroh-
	        
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