Vorrede.
Der seit Jahren von mir gefühlte Mangel eines in sich abgeschlossenen und
zusammenhängenden Lesebuches, welches jeder Altersstufe von dem Zeitpunkte an,
wo das Kind die Fibel überwunden hat, bis zum Abgänge des etwa sechzehn¬
jährigen Knaben und Mädchens von der Schule gerecht wird, hat mich bewogen,
ein Lesebuch in fünf Teilen zu bearbeiten. Über ein Menschenalter hinaus an
mehreren Schulen unseres Landes wirksam, seit mehr als dreißig Jahren als
Vorsteher verschiedener Progymnasien, Bürger- und höherer Töchterschulen mit
den Bedürfnissen derselben bekannt, habe ich trotz der vielen guten Lesebücher
oft wegen der Wahl eines solchen Sorge gehabt und mir im Laufe der Zeit ein
Ideal gebildet, welches ich bei Ausarbeitung meines Lesebuches zu verwirklichen
bemüht gewesen bin.
Ein Lesebuch für Schulen, welches nächst dem Religionsunterrichte den fein¬
sten und schwierigsten Unterricht vertritt, soll das Beste und Gediegenste, in der
Form Vollendete, was die poetische Litteratur unseres Volkes in Vers und Prosa
der Jugend zu bieten hat, enthalten. Es kann deshalb kein für Knaben und
Mädchen verschiedenes sein. Es soll seinen Zweck in sich selbst haben, Freude
am Schönen erwecken, das Herz groß machen und das Gemüt über das Gemeine
erheben. Es soll aber auch in der Hand des geschickten und fleißigen Lehrers
die schwere Kunst des Lesens lehren und dem Sprachunterricht eine^reue Ge-
hilfln sein nach dem Grundsätze:„1ongum iter per praecepta, breve et efficax
per exempla"; denn denken lernt man nur am Gedanken, schreiben und sprechen
nur an der Sprache, der innerlich zusammenhängenden Fülle der Gedanken. Zu
diesem Zwecke muß es Mannigfaltiges bieten in Erzählung, Beschreibung, Schil¬
derung, Abhandlung, welches aber erst unter der Leitung des Lehrers zu Stil¬
übungen benutzt werden kann; denn eine Sammlung von Aufsätzen, welche als
unmittelbare Muster für Schüleraufsätze dienen können, darf es nach dem oben
dargelegten Zwecke nicht enthalten.
Ebensowenig darf das Lesebuch der Knecht des Anschauungs- und weltkund-
lichen Unterrichts werden, obgleich Musterbilder für diesen Unterricht vor¬
kommen. Es kann auch nicht alles für den Schüler Wissenswürdige in die engen
Schranken eines Lesebuches zusammengedrängt werden, ohne dessen eigenstes
Wesen zu gefährden. Wenn irgendwo, so gilt hier des großen Meisters Grund¬
satz: „Der Jugendunterricht muß in seinem ganzen Umfange mehr kraftbildend
als wissenbereichernd sein."
Daß aber ein Buch, welches aus dem warmen Herzen des deutschen Volkes
geschöpft ist, ein vorwiegend religiöses werden muß, findet im Gemütsleben un¬
seres Volkes seine Berechtigung: doch habe ich auch in diesem Punkte Einseitigkeit