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Glatt wie ein Spiegel; lächelnd
bricht
Sich drin der Abendsonne Licht.
Doch wo sein Heim,die Hallig?—
wo
Die Hüttlein mit dem Dach von
Stroh ? —
Vom wilden Meer hinabgewühlt,
so Von Sturm und Springflut weg¬
gespült! —
Ein einz'ger grauser Augenblick
Entschleiert jäh sein schwer Ge¬
schick
Dem Halligsohn: Umsonst sein
Streben,
Umsonst sein Hoffen und sein
Leben! . . .
Dann kam die Nacht, und Nacht
befiel
Des Schiffers Seele. Als ein Spiel
Von Wind und Wellen glitt der
Kahn *
Hinaus zum weiten Ozean. —
Wie lang' er so, des Zufalls Beute,
9o Betäubt vom Schmerze, zuge¬
bracht,
Der Alte weiß es nicht bis heute.
Nur, daß er endlich ist erwacht
In bärfger Angesichter Mitte,
In eines fremden Schiffs Kajüte,
Ist ihm bewußt, und daß zuletzt
Ihm die Verzweiflung doch ent¬
wich. —
Schon manches Jahr von dannen
schlich,
Seit er am Steuer stand wie jetzt.
Nie mehr hat er den Fuß gesetzt
looAns Land; er trägt sein herbes
Los
Bei Tage stumm und tränenlos.
Doch naht die Nacht, und schau'n
die Sterne
Mitleidig her aus stiller Ferne,
Und hebt die Einsamkeit zu
singen
Das Lied der ew'genSehnsuchtan,
Da kann die Tränen nicht be¬
zwingen
Der weltverlass'ne, greise Mann;
Da sieht er seine Hallig steigen
Aus dunkler Wogen weißem
Schaum,
no Und in des Weltmeers ernstem
Schweigen
Grüßt ihn sein toter Jugend¬
traum.
Reinhold Fuchs.
138. Die Schnitterin.
1. War einst ein Knecht, einer
Witwe Sohn,
Der hatte sich schwer vergangen.
Da sprach sein Herr: „Du be¬
kommst deinen Lohn,
Morgen mußt du hangen."
Deutsches Lesebuch für Realschulen. II.
2. Als das seiner Mutter kund
getan,
Aus die Erde siel sie mit Schreien:
„O lieber Herr Gras und hört
mich an,
Er ist der letzte von dreien.
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