Full text: Die Welt im Spiegel der Nationalliteratur ([5], [Schülerbd.])

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Sänger in der Form gegen die Gesetze der Tabulatur und im 
Inhalte gegen die Erzählung der Bibel und der Heiligengeschichte 
begingen. 
(Als der Kaiser mit seinem Gefolge erschien, geriet alles in 
lebhafte Bewegung! Ein greiser Meister betrat dgp, Singestuhl, 
und vom Gemerke erscholl das Wort: Fanget an! - Es war Kon¬ 
rad Nachtigal, ein Schlosser, der so sehnsüchtig und klagend 
sang, daß er seinen Namen wohl mit Recht führte! Von dem 
himmlischen Jerusalem sagte er viel Schönes in gar köstlichen 
Reimen und Redensarten. Auf dem Gemerke las einer in der 
Bibel nach, ein anderer zählte die Silben ab, und der dritte schrieb 
auf, was die beiden anderen ihm von Zeit zu Zeit zuflüsterten. 
Nach dem Meister Nachtigal kam die Reihe an einen Jüngling, 
Fritz Kothner, einen Glockengießer; der hatte die Schöpfungs¬ 
geschichte zum Gegenstände seines Gedichtes gewählt. Aber da 
er verlegen war, mußte er bald den Singestuhl verlassen; denn 
er hatte sich versungen, ein „Laster“ begangen. Mit diesem 
Namen belegten die Kenner der Tabulatur einen Verstoß gegen 
die Reime. Dergleichen wunderliche Benennungen für Fehler 
gab es viele, als „blinde Meinung“, „Klebsilbe“, „falsche Blumen“; 
auch die Bezeichnung der Tonweisen war absonderlich, so gab 
es eine „Schwarztintenweise, Vielfraß weise“ usw. In der Hage- 
blütweise ließ sich nun vom Singestuhl herab Leonhard Nunnen- 
beck, der Weber, vernehmen, ein ehrwürdiger Greis in schwarzem 
Gewände. Sein Kopf war glatt, und nur das Kinn schmückte 
ein schneeweißer Bart. l Alles bewunderte ihn, als er nach der 
Offenbarung Johannis den Herrn beschrieb, an dessen Stuhl der 
Löwe, Stier, Adler und der Engel ihm Breis und Dank gaben, 
der da thronet von Ewigkeit zu Ewigkeit.; Als Nunnenbeck 
endigte, da waren alle voller Entzücken, und namentlich leuchtete 
aus seines Schülers Hans Sachsens Gesicht helle Freude. Als 
vierter und letzter Sänger trat wieder ein Jüngling auf. Er 
gehörte auch zur Weberzunft und hieß Michael Behaim. Sein 
Gedicht war gar sinnreich und hatte kunstvolle Reime. Als er 
geendet, verließen die Merker ihren Sitz. Der erste Merker trat 
zu Nunnenbeck, und mit schmeichelhaftem Glückwunsch hing er ihm 
den Davidsgewinner um, eine goldene Kette mit vielen Schmuck¬ 
stücken. Der zweite Merker zierte Behaims Haupt mit einem 
Kranze, der ihm wohl stand. Diese Gaben waren aber nicht 
Geschenke, sondern nur Auszeichnungen für die Feier des Tages. 
Nach der Feier in der Kirche begab man sich in eine nahe 
Schenke, in der nun frohe Ungebundenheit herrschte. Hier 
wurde der Wein getrunken, den der eine zur Buße, wie Meister 
Kothner, der andere zur Ehre, wie Meister Behaim, der zum 
erstenmal begabt worden , war, hergeben mußte. Mitten auf der 
Tafel stand ein Weinfäßchen, und einer der Meister hatte das
	        
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