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152. Weihnacht auf hoher See.
Reinhold Vernor. (Gekũrzt.)
Salawasser. Erzablungen aus dem Seeleben. 2. Auflage. Berlin 1897. 8. 267.
1. Weihnachten, seinen schönsten Feiertag, nimmt der Deutsche
auch mit auf das weite Meer hinaus, und an diesem Tage herrscht
eitel Lust und Freude an Bord, namentlich auch auf unsern
Kriegsschiffen. In rührender Voraussicht sorgen Kommandant
und Offiziere schon beim Verlassen des heimischen Hafens für die
nötigen kleinen Geschenke an die Mannschaft; denn niemand soll
an diesem festlichen Abend leer ausgehn, niemand soll der stille
Friede, den der brennende Baum auf die Gemüter ausstrahlt,
geraubt werden, mögen auch draußen Sturm und See brausen
und toben. An diesem Tage werden alle wieder zu Kindern. Mit
derselben freudigen Spannung wie in der Jugend sehen sie den
Überraschungen entgegen, welche die Güte der Vorgesetzten ihnen
zu bereiten gedenkt. Aber auch die Matrosen selbst legen keineswegs
die Hände in den Schoß, und alle sind eifrig bestrebt, die Feier
so würdig und schön wie möglich zu gestalten. Lange vorher sind
ihre geschickten Finger damit beschäftigt, das Wesentlichste, die
Bäumchen, zu schaffen.
2. Das Schiff befindet sich auf hoher See. Viele Wochen
hat man kein Land gesehen, woher sollten die Tannen kommen?
Keine Backschaft (Tischgesellschaft), deren es bis dreißig an
Bord gibt, will doch auf ihrem Tische den brennenden Baum
entbehren, ohne den das Fest seinen größten Wert verliert. Da
gilt es denn die Herstellung künstlicher Bäume, und es ist geradezu
erstaunlich, mit welchem Geschick und welcher Erfindungsgabe
daran geschaffen wird. Die einzelnen Künstler haben sich möglichst
verborgene Plätze in den untern Räumen des Schiffes aufgesucht,
wo sie in ihren Mußestunden ungestört arbeiten können; denn
jeder will die KRameraden überraschen und ihnen den Rang ablaufen.
Es sind nur einfache Materialien, die ihnen für ihr Werk zu Gebote
stehn: Holz, Tauwerk, bunte Putzbaumwolle, Blech und Papier.
Sie genügen aber, um daraus überraschend schöne Bäumchen
hervorgehn zu lassen und täuschend die Natur nachzuahmen.
3. Viele Tage vor dem Feste schon werden den Offizierburschen
übriggebliebene Lichtstümpfe abgeschmeichelt; die Eisenarbeiter von
der Maschine fertigen die nötigen Lichthalter aus Blech, und die
Stahlhobelmaschine ist in emsiger Tätigkeit, um die als Lametta