Full text: Mit einer Übersicht der Dichtungsarten und Dichtungsformen (Teil 5 = Obere Stufe, 1. Kursus, [Schülerbd.])

welcher die Thür des Saals gerade gegenübersteht. Hier staunte 
ich nun die vornehmen Personen an, welche sich heute als Diener 
des Reichsoberhauptes bekannten. Vierundvierzig Grafen, die 
Speisen aus der Küche herantragend, zogen an mir vorbei, alle 
prächtig gekleidet, so daß der Kontrast ihres Anstandes mit der 
Handlung für einen Knaben wohl sinnverwirrend sein konnte. Das 
Gedränge war nicht groß, doch wegen des kleinen Raums merklich 
genug. Die Saalthür war bewacht; indes gingen die Befugten 
häufig aus und ein. Ich erblickte einen pfälzischen Hausoffizianten, 
den ich anredete, ob er mich nicht mit hineinbringen könne. Er 
besann sich nicht lange, gab mir eins der silbernen Gefäße, die er 
eben trug, welches er um so eher konnte, als ich sauber gekleidet 
war, und so gelangte ich denn in das Heiligtum. Das pfälzische 
Büffett stand links, unmittelbar an der Thür, und mit einigen 
Schritten befand ich mich auf der Erhöhung desselben hinter den 
Schranken. 
Am andern Ende des Saals, unmittelbar an den Fenstern, 
saßen, auf Thronstufen erhöht, unter Baldachinen Kaiser und König 
in ihren Ornaten; Krone und Scepter aber lagen auf goldnen 
Kissen rückwärts in einiger Entfernung. Die drei geistlichen Kur— 
fürsten hatten, ihre Büffette hinter sich, auf einzelnen Estraden 
Platz genommen: Kur-Mainz den Majestäten gegenüber, Kur-Trier 
zur Rechten und Kur-Köln zur Linken. Dieser obere Teil des 
Saals war würdig und erfreulich anzusehen und erregte die Be— 
merkung, daß die Geistlichkeit sich so lange als möglich mit dem 
Herrscher halten mag. Dagegen ließen die zwar prächtig aufge— 
putzten, aber herrenleeren Büffette und Tische der sämtlichen welt— 
lichen Kurfürsten an das Mißverhältnis denken, welches zwischen 
ihnen und dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmählich ent⸗ 
standen war. Die Gesandten derselben hatten sich schon entfernt, 
um in einem Seitenzimmer zu speisen; und wenn dadurch der größte 
Teil des Saales ein gespensterhaftes Ansehn bekam, daß so viele 
unsichtbare Gäste auf das prächtigste bedient wurden, so war eine 
große unbesetzte Tafel in der Mitte noch betrübter anzusehen; denn 
hier standen auch so viele Couverte leer, weil alle die, welche allen⸗ 
falls ein Recht hatten, sich daran zu setzen, Anstands halber, um 
an dem größten Ehrentage ihrer Ehre nichts zu vergeben, aus— 
blieben, wenn sie sich auch dermalen in der Stadt befanden. 
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