Full text: [Teil 6 = 7. u. 8. Schulj., [Schülerbd.]] (Teil 6 = 7. u. 8. Schulj., [Schülerbd.])

— 153 — 
Kleine mit unbefangenen, großen Augen zutraulich anblickt: „Vater, der 
Lehrer hat gesagt, Kinder sollen immer in den Fußtapfen ihrer Eltern 
gehen." Und der ehrliche Blick des hübschen Knaben sagt deutlich genug, daß 
er keinen Streich im Sinne gehabt; er hat wirklich nur in treuherzigem Ge¬ 
horsam der allzuwörtlich verstandenen Weisung des Lehrers folgen wollen. 
2. Im Vorzimmer der liebenswertesten Königin Preußens, Luise, 
sitzen mehrere Kammerdiener und Lakaien. Sie schlagen die Zeit mit 
Kartenspiel, mit fader Unterhaltung tot; denn selten nur begehrt die 
einfache fürstliche Frau persönliche Dienstleistungen. 
Ein schöner, junger Mann mit kühner ©iirit und natürlich fallender 
Stirnlocke sitzt allein an einem Tische am Fenster. Sein Anzug kenn¬ 
zeichnet ihn als einen Kollegen der andern; aber seine Hände bilden aus 
Wachs die Figur eines jugendlichen schlafenden Schäfers, und mit leuch¬ 
tendem Auge verfolgt er jeden Fortschritt in der Gestaltung des kleinen 
Modells. 
Der eifrige Bildner ist der einstige Knabe aus Arolsen. Noch 
immer ist er allzutreulich in die Fußtapsen seines Vaters getreten: er ist 
Kammerdiener geworden. Aber der Dienst auch bei der anmutigsten 
Fürstin ist seinem drängenden Kunsttriebe eine hemmende Schranke, und 
sein hochfliegender Geist ringt nach Befreiung von allem Fürsten- und 
Menschendienst. 
3. In der Georgenstraße zu Berlin steht ein Künstler betrachtend 
in seiner Werkstatt vor dem Modell der schlafenden Königin, das er ge¬ 
schaffen. Mehr als lebensgroß liegt die in Gips geformte Gestalt vor 
ihm, als seien die edlen Glieder nur in sanftem Schlummer leicht gelöst, 
das seitwärts geneigte Antlitz wie in holdem Traume verklärt — ach, es 
lächelt ja längst in einem Lichte der Verklärung, das kein Marmor¬ 
schimmer wiedergeben kann! Die stille Gipsmasse ist dem Könige immer 
noch zu starr, zu tot gewesen, um seinem Auge die geliebte Gemahlin 
wiederzubringen; oft ist er hier in des Bildhauers stille Werkstatt ge¬ 
treten, oft hat er noch dies und das zu bemerken und zu verbessern ge¬ 
funden. Aber kann die Kunst je ersetzen, was das Leben genommen? — 
Der Künstler hat jeder Anordnung des Monarchen Rechnung zu tragen 
gesucht; er hat nicht nur die hoheitvolle Königin, die leidbewährte 
Dulderin dem Volke, er hat auch die zärtliche Geniahlin den: Gatten 
geben wollen. Er hat sich bemüht, mit des Königs Auge zu sehen und 
so heute die letzte Änderung vollbracht. Prüfend, wartend steht die hohe 
Gestalt des Bildners mit dem geistvollen, mächtigen Antlitz. Friedrich 
Wilhelm III. tritt ein. Stumm bewegt steht er; lange, innig ruht sein 
Auge auf dem schönen Bildwerke und füllt sich mit Tränen. Stumm, 
seiner Empfindung nicht mächtig, geht der Monarch mit gesenktem Haupte 
wieder hinaus. Fortan durfte der Künstler keine Linie am Denkmal 
mehr andern. Diese Tränen im Auge des Königs, da die Züge seiner 
geliebten Luise aus der toten Masse zu ihm gesprochen, waren dem Künstler 
höherer Lohn als alle Ehren, Orden und Auszeichnungen, die ihm später
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.