Full text: [Teil 5, [Schülerbd.]] ([Teil 5, [Schülerbd.]])

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Ein Savoyarde hatte eine Gemse angeschossen, und zwei Walliser erlegten 
sie völlig. Dem Tiere näher und durch den ersten Schuß dazu berechtigt, 
nahm der erste es zu Handen und trug es fort. Die Walliser Jäger, 
die tiefer standen, riefen ihm zu, er solle das Tier liegen lassen, was 
ihn aber nicht hinderte, seinen Weg fortzusetzen. Nun flogen 
zwei Kugeln dicht an seinem Kopfe vorbei. Er konnte wegen 
der steilen Wege nicht schnell fliehen, noch sich verteidigen, 
weil er seine Munition') verschossen hatte. Darum ließ er die Gemse 
liegen und zog sich voller Rachegedanken zurück, lauerte aber genau auf, 
bis er entdeckte, in welcher der (von den Hirten bereits verlassenen) 
Alpenhütten die Walliser übernachten wollten. Dann lief er zwei 
Stunden weit nach Hause, lud dort seine Zweischloßbüchse mit zwei 
Schüssen und kehrte des Nachts zur Hütte zurück. Durch eine Ritze sah 
er seine Feinde am Feuer sitzen, steckte das Rohr sachte durch, um beide 
mit einem Male niederzuschießen, und war im Begriff loszudrücken, als 
ihm beifiel, die Männer hätten ja, seit sie aus ihn geschossen, nicht mehr 
beichten können und würden also niit einer Todsünde sterben und ewig 
verdammt werden. Dies erschütterte ihn tief. Er zog das Rohr zurück, 
trat in die Hütte und gestand den Jägern, in welcher Gefahr sie gewesen 
wären. Diese dankten ihm gerührt und überließen ihn: die verhängnis¬ 
volle Gemse — zur Hälfte. — Zwischen Schweizerjägern benachbarter 
Kantone geht der Grenzstreit gewöhnlich harmloser ab. Der Eindringling 
wird womöglich gezwungen, seine Flinte abzulegen, welche dann vom 
Revierberechtigten als Eigentum in Empfang genommen wird. Noch 
öfter aber jagen die Grenzanwohner friedlich herüber und hinüber, ohne 
sich viel zu stören. 
12. Der eigentliche Jagdgewinn steht heutzutage in keinem Verhältnis 
mehr zu all den Gefahren, Mühen und der verlorenen Zeit, die seine 
Erlangung fordert, denn die geschossene Gemse ist höchstens achtzehn Mark 
wert; dennoch sind die Jäger so leidenschaftlich erpicht, daß z. B. einer, 
dem in Zürich das Bein abgenommen wurde, nach zwei Jahren seinem 
Arzte die Hälfte einer von ihn: erlegten Gemse aus Dankbarkeit schickte, 
jedoch bemerkte, „mit dem Stelzfuß wolle die Jagd nicht mehr recht 
vorwärts, — doch hoffe er, noch manche Gemse zu fällen." Der Mann 
war bei der Amputation einundsiebzig Jahr alt. 
12. Zu diesem Beispiele, wie die Gemsenjagd mit ihren wunderbaren 
Reizen und Gefahren oft zur stehenden, brennenden Leidenschaft wird, könnten 
gar viele andere hinzugefügt werden. Wir erinnern jedoch nur noch an 
jenen Führer Sanssures, welcher äußerte: „Ich bin seit kurzem sehr glücklich 
verheiratet. Mein Großvater und mein Vater sind auf der Gemsenjagd 
zu Grunde gegangen, und ich bin sicher, ebenso umzukommen. Aber wollten 
Sie rnein Glück machen unter der Bedingung, daß ich der Jagdit entsagen 
sollte, so könnt' ich es nicht annehmen." Zwei Jahre nach jener Äußerung 
zerschellte der starke und gewandte Jäger in einem Abgrunde. 
') Die Munition, der Schießbedarf. 
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