Full text: [Teil 5, [Schülerbd.]] ([Teil 5, [Schülerbd.]])

55 
in ähnlichen Verhältnissen lebender Völkerschaften zu erinnern haben, wie 
denn selbst die Hirten des alten Testaments streitbar die Waffen geführt 
zu haben scheinen. 
17. Auch ihre Gastlichkeit ist nicht bloß Ergebnis des einsamen 
Lebens. Denn gerade hier, wo die Natur mit kärgster Hand ihre Gaben 
gewährt, vielmehr fast ununterbrochen die Kraft des Menschen zur Gegen¬ 
wehr herausfordert, gerade hier scheint es kaum möglich, jener Pflicht 
nachzukommen. Dennoch erfüllt sie der Tschuktsche; er erfüllt sie freudig, 
ohne Zögern und in einem Maße, wie sie unter zivilisierten Nationen 
weder gefordert noch geübt werden würde. So manche gestrandete 
Mannschaft verdankt dem gastlichen Stamme Leben und Heimkehr. 
Bereitwillig gibt der arme Höhlenbewohner von seinen Fellen, von seinen 
ersparten Vorräten, von allem, was er besitzt, und er gibt dies wochen- 
und monatelang ohne eine andere Aussicht als die, bei andauerndem 
Winter zuletzt selbst Mangel zu leiden, wohl gar seine Menschlichkeit mit 
dem Hungertode zu büßen. 
18. Wahrhaft rührend ist endlich die Anhänglichkeit des Tschuktschen 
an seine Heimat. Er liebt diese unwirtliche Erde mit der ganzen 
Leidenschaft seiner Seele; für sie duldet, für sie wagt er alles. Als im 
Jahre 1814 unter einem jener Stämme eine verheerende Seuche aus¬ 
brach, die trotz der Beschwörungen der Priester nicht wich, thaten die 
letzteren den Ausspruch, die erzürnte Gottheit verlange eine Sühne. Einer 
der angesehensten Häuptlinge sollte geopfert werden. Da verweigerte das 
Volk den gewohnten Gehorsam; es wollte den geliebten Führer nicht 
preisgeben. Als aber die Seuche immer weiter um sich griff, erklärte 
der Häuptling selbst, er sei bereit, für die Rettung seines Volkes zu 
sterben. Auch jetzt wollte niemand Hand an ihn legen, bis endlich sein 
eigener Sohn, durch den Befehl und die Drohungen des Vaters 
erschüttert, ihm das Opfermesser in die Brust stieß und den Leichnam 
den SchamanenZ übergab. 
19. Bezeugt dieses Ereignis einen Mut und eine Vaterlandsliebe, 
wie sie hochherziger sogar unter den Römern nicht erschienen ist, so 
bekundet es zugleich den religiösen Sinn der Tschuktschen. Ihre Priester 
bilden zwar keine Kaste, aber derer: Wort gibt in allen religiösen Dingen, 
sowie in allen größeren und zweifelhaften Angelegenheiten die Entscheidung. 
Sie sind die Richter und Ärzte, die Lehrer und Lenker des Volkes, und 
wenn sie bei dein dumpfen Tone der Zaubertrommel verzückt ihre 
Gesichte verkünden, dann verehrt der Tschuktsche in ihnen die Boten einer 
höheren Gewalt. Daß eine solche Religion eine sehr rohe, daß sie viel¬ 
fach nur die verzerrte Spiegelung der Schrecken ist, mit welchen die 
Natur dort den Menschen umgibt, mag nicht befremden. Wohl aber 
darf nran bewundern, daß trotz dieser rohen und finstern Vorstellungen 
die Tschuktschen den edleren Regungen der Liebe und Treue, der Dank¬ 
barkeit und Aufopferung sich niemals verschlossen haben. Und wie dies 
alles, so muß zuletzt auch wohl das als ein tiefer, dem Menschen ins 
Elend mitgegebener Heimatzug angesehen werden, daß sie an eine 
9 Die Schamanen, buddhistische Priester.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.