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in ähnlichen Verhältnissen lebender Völkerschaften zu erinnern haben, wie
denn selbst die Hirten des alten Testaments streitbar die Waffen geführt
zu haben scheinen.
17. Auch ihre Gastlichkeit ist nicht bloß Ergebnis des einsamen
Lebens. Denn gerade hier, wo die Natur mit kärgster Hand ihre Gaben
gewährt, vielmehr fast ununterbrochen die Kraft des Menschen zur Gegen¬
wehr herausfordert, gerade hier scheint es kaum möglich, jener Pflicht
nachzukommen. Dennoch erfüllt sie der Tschuktsche; er erfüllt sie freudig,
ohne Zögern und in einem Maße, wie sie unter zivilisierten Nationen
weder gefordert noch geübt werden würde. So manche gestrandete
Mannschaft verdankt dem gastlichen Stamme Leben und Heimkehr.
Bereitwillig gibt der arme Höhlenbewohner von seinen Fellen, von seinen
ersparten Vorräten, von allem, was er besitzt, und er gibt dies wochen-
und monatelang ohne eine andere Aussicht als die, bei andauerndem
Winter zuletzt selbst Mangel zu leiden, wohl gar seine Menschlichkeit mit
dem Hungertode zu büßen.
18. Wahrhaft rührend ist endlich die Anhänglichkeit des Tschuktschen
an seine Heimat. Er liebt diese unwirtliche Erde mit der ganzen
Leidenschaft seiner Seele; für sie duldet, für sie wagt er alles. Als im
Jahre 1814 unter einem jener Stämme eine verheerende Seuche aus¬
brach, die trotz der Beschwörungen der Priester nicht wich, thaten die
letzteren den Ausspruch, die erzürnte Gottheit verlange eine Sühne. Einer
der angesehensten Häuptlinge sollte geopfert werden. Da verweigerte das
Volk den gewohnten Gehorsam; es wollte den geliebten Führer nicht
preisgeben. Als aber die Seuche immer weiter um sich griff, erklärte
der Häuptling selbst, er sei bereit, für die Rettung seines Volkes zu
sterben. Auch jetzt wollte niemand Hand an ihn legen, bis endlich sein
eigener Sohn, durch den Befehl und die Drohungen des Vaters
erschüttert, ihm das Opfermesser in die Brust stieß und den Leichnam
den SchamanenZ übergab.
19. Bezeugt dieses Ereignis einen Mut und eine Vaterlandsliebe,
wie sie hochherziger sogar unter den Römern nicht erschienen ist, so
bekundet es zugleich den religiösen Sinn der Tschuktschen. Ihre Priester
bilden zwar keine Kaste, aber derer: Wort gibt in allen religiösen Dingen,
sowie in allen größeren und zweifelhaften Angelegenheiten die Entscheidung.
Sie sind die Richter und Ärzte, die Lehrer und Lenker des Volkes, und
wenn sie bei dein dumpfen Tone der Zaubertrommel verzückt ihre
Gesichte verkünden, dann verehrt der Tschuktsche in ihnen die Boten einer
höheren Gewalt. Daß eine solche Religion eine sehr rohe, daß sie viel¬
fach nur die verzerrte Spiegelung der Schrecken ist, mit welchen die
Natur dort den Menschen umgibt, mag nicht befremden. Wohl aber
darf nran bewundern, daß trotz dieser rohen und finstern Vorstellungen
die Tschuktschen den edleren Regungen der Liebe und Treue, der Dank¬
barkeit und Aufopferung sich niemals verschlossen haben. Und wie dies
alles, so muß zuletzt auch wohl das als ein tiefer, dem Menschen ins
Elend mitgegebener Heimatzug angesehen werden, daß sie an eine
9 Die Schamanen, buddhistische Priester.