368
II. Epische Dichtungen.
glückwünschend strömen die Diener Auf springt er und ruft, aus dem
Brüten erwacht:
. herbei:
„Was zögert Ihr, Herr? Ihr seid nun
frei!"
Doch achtet er nicht ihr Grüßen.
„Ich habe den Oheim umgebracht
und heische das eine: noch diese Nacht
die Strafe des Mordes zu büßen."
1. Vorbereitung und dann Vortrag. Bei dem früheren Strafver¬
fahren wandte man häufig die F o l t e r (T o r t u r oder p e i n l i ch e F r a g e)
an, d. h. man suchte die Angeschuldigten durch allerlei Peinigungen zum
Geständnis der Schuld zu bringen. Eine ganze Skala von Qualen stellte
nian nach und nach zusammen. So spannte man den Körper auf und
zerhieb ihn mit Peitschen, schrob die Daumen zusammen, bis das Blut
herausspritzte, preßte die Beine in spanische Stiefel, d. h. in Schraub¬
stöcke mit stumpfen Spitzen, reckte den Körper auf einer Bank oder Leiter
aus, bis die Glieder aus ihren Fugen gingen, setzte ihm mit Brennen und
Stechen an den empfindlichsten Stellen zu usw. Der entsetzliche Körper¬
schinerz erpreßte oft dem Munde ein Geständnis, wovon das Herz nichts
wußte. Nur selten überstand ein Angeklagter alle Grade der Folter und
wurde dann freigelassen, freilich oft als Krüppel. Andere Mittel, um eine
verborgene Schuld ans Licht zu bringen, waren die Gottesurteile
oder Ordalien, Handlungen, in denen der allwissende Gott selbst die
Unschuld schützen und die Schuld offenbaren sollte. Am längsten hat sich
davon das Bahrrecht zur Entdeckung und Überführung eines Mörders
erhalten. Der Angeklagte wurde an die Leiche des Ermordeten auf der
Bahre geführt, mußte die Wunden berühren und dabei Gott um Ent¬
deckung des Schuldigen anrufen. Ja zuweilen wurde er stundenlang bei
der Leiche eingesperrt. Fingen die Wunden der Leiche an zu bluten, so
galt der Angeklagte für schuldig. So flössen (im Nibelungenliede) Sieg¬
frieds Wunden, als der Mörder Hagen an die Bahre trat.
Der Graf OttovonWindeck war angeschuldigt, den Herzog, seinen
Oheim, der ihn als Knappen in allen ritterlichen und höfischen Künsten
erzogen, ihm dann aber seine Tochter als Gattin versagt hatte, ermordet
zu haben, um seine Länder und Güter zu erben. Folter und Bahr¬
recht wurden an ihm angewandt, um ihn zum Geständnis der Schuld
zu bringen. Mit welchem Erfolge, das zeigt Graf von Schacks er¬
greifendes Gedicht „Das Bahrrecht".
II. Vertiefung. 1. Schauplatz. Wir treten in die Totenkammer.
Die hohe Decke ist gewölbt; die Wände sind schwarz ausgeschlagen. Auf
deni Tische flimmert und flackert unheimlich eine Lauche. In der Mitte
des Leichengewölbes steht eine Bahre, und darauf ruht lang ausgestreckt
eine Leiche niit gebrochenen Augen, welken Zügen und das Antlitz von
weißen Haaren umflossen. Daneben liegt ein jüngerer Mann auf den
Knien, die Augen entsetzt niedergeschlagen, die Stirn mit kaltem Schweiß
bedeckt, die Hände gefaltet emporgehoben. Draußen wird der große Stein,
welcher die Türe verschloß, von der Wache hinweg gewälzt, und die Rich¬
ter treten herein. Auf dem Gange harren angstvoll die Diener des Grafen.
2. Charakteristik des Grafen. Er ist ein Neffe des ermordeten
Herzogs und von diesem erzogen worden. An seinem Hofe hat er eine