Hebel: Der Winter,
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wolkeu waren ihm Wagen oder Säcke voll Baumwolle, die Schneeflocken
herabgeschüttelte Baumwollenflöckchen, die eiligen Wanderer Diebe mit
bösem Gewissen, der Schneeüberzug auf Hut und Achsel „gekaufte Baum¬
wolle", die Pfähle im Staket mit den Schneetürmchen daraus große Herren
nlit Käppchen. Die Erde erschien wie ein großes Grab, auf das ein
weißes Tuch gebreitet war. Hebel gedachte der Körnlein und Schmetter¬
lingspuppen, die darunter begraben lagen. Er dachte daran, wie sie aus
ihren Oster- oder Auserstehungstag im Frühling warten, wie sie bann
ihr Totenhemdchen abstreifen und zu neuem Leben erwachen. Da flog
plötzlich ein hungriger Spatz auf das Fensterbrett und bettelte mit stum¬
men Blicken um eine kleine Gabe. Hebel sättigte ihn mit Brosamen und
gedachte des Spruches Matth. 6, 26: „Sehet die Vögel unter dem Himmel
an! Sie säen nicht —Was Hebel nun in seiner sinnigen Weise ge¬
sehen und gedacht, das hat er auf unübertreffliche Art in ein Gedicht
verwandelt, zunächst in der alemannischen Mundart, wie sie am Ober¬
rhein gesprochen wird. Der Kiuderfreund Robert Reinick hat das ale¬
mannische Gedicht ins Hochdeutsche übertragen. In dieser Form wollen
wir es hören!
II. Vortrag.
1. Wer hat die Bauinwoll' oben feil?
Sie schütten schon ein redlich Teil
ins Feld herunter und aufs Haus;
es schneit doch auch, es ist ein
Graus;
noch hängen ganze Säcke voll
am Himmel da, ich merk es wohl!
2. Und wo ein Mann von weitem
lauft,
hat von der Baumwoll' er gekauft,
er trägt sie auf den Achseln schon
und aus dem Hut und läuft davon.
Was läufst du so, du närr'scher
Wicht?
Gestohlen hast du sie doch nicht!
3. Und Gärten ab und Gärten auf
hat jeder Pfahl sein Käppel auf;
sie stehn wie Herren rings umher,
denkt jeder wunder, was er wär'.
Der Nußbaum auch macht's ihnen
nach
und auch das Schloß- und Kirchen¬
dach.
4. Ja, Schnee und Schnee! und rings¬
umher
man sieht nicht Straß' noch Fu߬
weg mehr.
Manch Samenkörnchen, klein und
zart,
liegt unterm Boden wohl verwahrt,
und schneit's, solang es schneien
mag,
es harrt auf seinen Ostertag.
5. Manch Schmetterling von schöner
Art
liegt unterm Boden wohl verwahrt,
hat keinen Kummer, keine Klag'
und harrt auf seinen Ostertag;
währt es auch lang, er kommt ja
doch;
bis dahin schläft's in Frieden noch.
6. Doch wenn die Schwalb' im Früh¬
ling singt,
die Sonne warm das Land durch¬
dringt,
hei! da erwacht's in jedem Grab
und streift sein Totenhemdchen ab,
unb wo sich nur einLöchlein zeigt,
schlüpft Leben 'raus, so jung und
leicht.
7. Da fliegt ein hungrig Spätzchen
her,
ein bissel Brot wär' sein Begehr;
er sieht dich an so jämmerlich
und bittet um ein Bröckchen Md).
Gelt, Bürschen, das ist andre Zeit,
wenn's Korn in alle Furchen streut!
8. Da hast! Gib andern auch was
her!
Bist hungrig, komm hübsch wieder
her!
Ja, wahr ist, was das Sprüchlein
spricht:
„Sie säen nicht, sie ernten nicht,
sie haben keinen Pflug, kein Joch,
und Gott im Himmelnährt sie doch."