Full text: [Stufe 3, [Schülerband]] ([Stufe 3, [Schülerband]])

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2. Die erste Lüge. 
Am nNachmittage eines Samstages stand ich, etwa gegen das 
Ende meines sechsten Jahres, auf dem kleinen Berge vor der 
Kirche; da zog ein Schwarm fröhlich schwatzender Buben an mir 
vorüber, welche sagten: „Komm, Pfarr-Hheinrich, geh mit uns, 
wir holen uns Narzissen (Sternblumen)!“ Das ließ ich mir nicht 
zweimal sagen, ich lief, von einem der größeren an der Hhand 
geführt, mit den Buben fort. Wir zogen von einem Garten in 
den anderen und kamen endlich, durch eine Gffnung im Zaune 
kriechend, in den Garten des Seilers, in dem hie und da unter 
den Apfelbäumen die schöne gelbe Narzisse in Menge wuchs. Wir 
pflückten ab nach Herzenslust, und da einige der Buben für mich 
abrissen, andere mir von ihrem Strauße schenkten, kam ich fröhlich, 
wie ein Sieger über zehntausend, gegen Abend mit einem Büschel 
Blumen, den ich kaum tragen konnte, wieder im Pfarrhause an. 
Die Mutter sah mich ernst an: „Woher hast du die Blumen, 
heinrich?“ fragte sie. „Wir haben sie uns in Seilers Garten 
geholt!“ antwortete ich. Sie schwieg und schien sich gar nicht 
über die Blumen zu freuen. Etwas betroffen ging ich ins Zimmer; 
da saß mein Vater und las. Er sah vom Buche hinweg und 
blickte mich und meine Sternblumen ernsthaft an. Mir war auf 
einmal mein ganzer Strauß verleidet; er roch mich an wie die 
Sunde, gern hätte ich ihn weggeworfen, ich wagte das nicht vor 
solchen Blicken des Vaters. Ich legte die Blumen auf meinen 
kleinen Tisch ganz in die Ecke hinein. Der Vater sah mir zu: 
„Komm zu mir her, heinrich!“ sprach er. Ich kam. „Woher 
hast du die Narzissen?“ Ich schwieg und wurde hochrot. Endlich 
stotterte ich die Antwort: „Aus unserem Garten!“ — „In 
unserem Garten wachsen keine Sterne,“ sagte der Vater sehr ernst, 
„woher hast du sie?“ „Der herr Nachbar Bahrd hat sie mir 
gegeben,“ sagte ich. Der Vater erfaßte mich bei der hand, mit 
der ich verlegen mit einem Messer oder Löffel spielte, die auf dem 
Tische lagen, zog mich näher an sich hin, sah mir sehr ernst ins 
Gesicht und sagte: „Nachbar Bahrd hat keine Narzissen; sag die 
Wahrheit, heinrich, woher hast du die Blumen?“ Ich gestand nun 
alles mit verhaltenen Tränen ein. „Als dir neulich des Nachbars
	        
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