Full text: [Stufe 3, [Schülerband]] ([Stufe 3, [Schülerband]])

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172. Raupe und Schnecke. 
Auf einem Gartengesträuch saß eine Raupe, grasgrun und diek wie 
der kleine Finger eines Hadehens. Hinten hatte sie ein Horn, das ragte 
drohend empor wie eine Waffe, war aber nichts als eine Verzierung, 
sbenso wle die weiten und violetten Striemen, die sich in regelmaßigen 
Abstanden den walzenförmigen körper entlang zogen, gleleh Schlitzen in 
elnem Kleide, duren die das Untergewand hervorlugt. Am vorderen Ende 
befanden sieh ein paar scharfe Fretzangen, die hleb die Raupe in den 
Rand eines Blattes und fraß emsig von oben nach unten einen Streifen 
weg, bis hinab an den Blattstiel. Hlerauf streckte sie sieh wieder aus 
in hrer ganzen Länge und fing abermals von oben an und sabelte einen 
zweiten Streifen herunter und so fort, bis das Blatt verschwunden Wwar. 
Dann machte sle sich an das nächste. 
Eine Gartenschnecke, die auf einem zweige kroech und éeinen 
schlitzigen Silberfaden hinter sich her z09, sagte; „Es ist merkwürdig, 
man sieht ordentlich, wie du von Tag zu Tag größer wirst. Wohin soll 
das noech kommen?“ 
„Wirst du nicht auch alle Tage größer?“ fragte die Raupe. 
„Nein,“ sagte die Schnecke, „leh bin fertig, ieh wachse nicht mehr. 
Es wäre ein Unglück, denn mein Haus ist hart und spröde, und wenn 
ieh größer würde, hätte ich keinen Platz mehr darin.“ 
Die Raupe sagte nichts mehr, sondern fraß ruhig weiter. Es dauerte 
nicht lange, so war sie so dick wie der Goldfinger eines Knaben, und 
nachdem wieder einige Zeit verstrichen war, wurde sle gar wie der 
MNittelfinger eines Nannes. 
Die Schnecke, die wieder einmal vorlber kam, verwunderte sich 
immer mehr. 
„Nein, wie du es treibst, das ist eigentlich gar nieht mehr schön! 
Han sollte doeh auch Sinn flür Höheres haben! Sieh, wie iceh in der 
Welt herumkomme! leh bin inzwischen auf drei, vier Sträuchern ge· 
wesen, wahrend du noch immer auf demselben Platze sitzest.“ 
„leh blesbe jetzt auch nieht länger hier,“ sagte die Raupe, „ich weiß 
nieht — es zieht mich hinunter nach der Erdo.“ 
SsSie kroch an dem kahlgefressenen Gesträuehn nieder und lag ein 
paar Tage regungslos am Boden. Allmählieh verfärbte sie sieh und nahm 
einen bräunlichen Ton an, auch fing sie an, sich ein wenig in die Erde 
einzuwühlen. Und als die Nachte kühler wurden, wuühlte sie sich tiefer 
und tiefer. Nach und nach überzog sie sich mit elner harten kruste, 
wurde dunkelbraun und glänzend und lag schlietlich wie eine Humle im Grab.
	        
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