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172. Raupe und Schnecke.
Auf einem Gartengesträuch saß eine Raupe, grasgrun und diek wie
der kleine Finger eines Hadehens. Hinten hatte sie ein Horn, das ragte
drohend empor wie eine Waffe, war aber nichts als eine Verzierung,
sbenso wle die weiten und violetten Striemen, die sich in regelmaßigen
Abstanden den walzenförmigen körper entlang zogen, gleleh Schlitzen in
elnem Kleide, duren die das Untergewand hervorlugt. Am vorderen Ende
befanden sieh ein paar scharfe Fretzangen, die hleb die Raupe in den
Rand eines Blattes und fraß emsig von oben nach unten einen Streifen
weg, bis hinab an den Blattstiel. Hlerauf streckte sie sieh wieder aus
in hrer ganzen Länge und fing abermals von oben an und sabelte einen
zweiten Streifen herunter und so fort, bis das Blatt verschwunden Wwar.
Dann machte sle sich an das nächste.
Eine Gartenschnecke, die auf einem zweige kroech und éeinen
schlitzigen Silberfaden hinter sich her z09, sagte; „Es ist merkwürdig,
man sieht ordentlich, wie du von Tag zu Tag größer wirst. Wohin soll
das noech kommen?“
„Wirst du nicht auch alle Tage größer?“ fragte die Raupe.
„Nein,“ sagte die Schnecke, „leh bin fertig, ieh wachse nicht mehr.
Es wäre ein Unglück, denn mein Haus ist hart und spröde, und wenn
ieh größer würde, hätte ich keinen Platz mehr darin.“
Die Raupe sagte nichts mehr, sondern fraß ruhig weiter. Es dauerte
nicht lange, so war sie so dick wie der Goldfinger eines Knaben, und
nachdem wieder einige Zeit verstrichen war, wurde sle gar wie der
MNittelfinger eines Nannes.
Die Schnecke, die wieder einmal vorlber kam, verwunderte sich
immer mehr.
„Nein, wie du es treibst, das ist eigentlich gar nieht mehr schön!
Han sollte doeh auch Sinn flür Höheres haben! Sieh, wie iceh in der
Welt herumkomme! leh bin inzwischen auf drei, vier Sträuchern ge·
wesen, wahrend du noch immer auf demselben Platze sitzest.“
„leh blesbe jetzt auch nieht länger hier,“ sagte die Raupe, „ich weiß
nieht — es zieht mich hinunter nach der Erdo.“
SsSie kroch an dem kahlgefressenen Gesträuehn nieder und lag ein
paar Tage regungslos am Boden. Allmählieh verfärbte sie sieh und nahm
einen bräunlichen Ton an, auch fing sie an, sich ein wenig in die Erde
einzuwühlen. Und als die Nachte kühler wurden, wuühlte sie sich tiefer
und tiefer. Nach und nach überzog sie sich mit elner harten kruste,
wurde dunkelbraun und glänzend und lag schlietlich wie eine Humle im Grab.