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Doch furchtlos fällt sie den Löwen an,
und aus dem Kachen mit scharfem Zahn
nimmt sie das unversehrte Kind
in ihren rettenden Arm geschwind.
Der Löwe stutzt, und unverweilt
mit dem Kinde die Mutter von dannen eilt.
Da erkannte gerührt so jung wie alt
des Mutterherzens Allgewalt
und des Leuen großmütigen Sinn zugleich.
Doch manche Mutter, von Schrecken bleich,
sprach still: „Um des eigenen Kindes Leben
hätt' ich mich auch dahin gegeben!“
heinrich Bernhardi
44. Die Schnitterin.
War einst ein Knecht, einer Witwe Sohn,
der hatte sich schwer vergangen.
Da sprach sein herr: „Du bekommst deinen Lohn,
morgen mußt du hangen.“
Als das seiner Mutter kundgetan,
auf die Erde fiel sie mit Schreien:
„O lieber herr Graf und hört mich an,
er ist der letzte von dreien.
Den ersten schluckte die schwarze See,
seinen Vater schon mußte sie haben,
den andern haben in Schonens Schnee
eure schwedischen Feinde begraben.
Und laßt Ihr mir den letzten nicht,
und hat er sich vergangen,
laßt meines EAlters Trost und Licht
nicht schmählich am Galgen hangen!“
Die Sonne hell im Mittag stand,
der Graf saß hoch zu Pferde,
das jammernde Weib hielt sein Gewand
und schrie vor ihm auf der Erde.