150
—
Wie er hieß die Kindlein kommen, wie er hold auf sie geblickt
und sie auf den Arm genommen und an seine Brust gedrückt;
Wie er Hülfe und Erbarmen allen Kranken gern bewies
und die Blöden und die Armen seine lieben Brüder hieß;
Wie er keinem Sünder wehrte, der mit Reue zu ihm kam;
wie er freundlich ihn belehrte, ihm den Tod vom Herzen nahm.
Immer muß ich wieder lesen, les' und weine mich nicht satt,
wie der Herr so treu gewesen, wie er uns geliebet hat.
Hat die Herde mild geleitet, die sein Vater ihm verliehn;
hat die Arme ausgebreitet, alle an sein Herz zu ziehn.
Laß mich knien zu deinen Füßen, Herr, die Liebe bricht mein Herz;
laß in Thränen mich zerfließen, untergehn in Wonn' und Schmerz.
Luise Sensel.
183.
Droben stehet die Kapelle,
schauet still ins Thal hinab;
drunten singt bei Wies' und Quelle
froh und hell der Hirtenknab'.
Traurig tönt das Glöcklein nieder,
schauerlich der Leichenchor;
Die Kapelle.
stille sind die frohen Lieder,
und der Knabe lauscht empor.
Droben bringt man sie zu Grabe,
die sich freuten in dem Thal.
Hirtenknabe! Hirtenknabe!
dir auch singt man dort einmal.
Ludwig Uhland.
184. über das Gebet.
Lieber Andres! Es ist sonderbar, daß du von mir eine Weisung
übers Gebet verlangst; und du verstehst's gewiß viel besser als ich.
Du kannst so in dir sein und auswendig so verstört und albern aus—
sehen, daß der Priester Eli, wenn er dein pastor loci Ortspfarrer)
wäre, dich leicht in bösen Ruf bringen könnte. Und das sind gute
Anzeichen, Andres. Denn wenn das Wasser sich in Staubregen zer⸗
splittert, kann es keine Mühle treiben, und wo Klang und Rumor
an Thür und Fenstern ist, passiert im Hause nicht viel.
Daß einer beim Beten die Augen verdreht u. s. w., finde ich
eben nicht nötig, und halt ich's besser: natürlich! Indes muß man
einen darum nicht lästern, wenn er nicht heuchelt; doch daß einer
groß und breit beim Gebet thut, das muͤß man laͤstern, dünki mich,
uünd ist nicht auszustehen. Man darf Mut und Zuversicht haben,
aber nicht eingebildet und selbstklug sein; denn weiß einer sich selbsi
zu raten und zu helfen, so ist ja das kürzeste, daß er sich selbst
hilft. Das Händefalten ist eine feine äußerliche Zucht und sieht so
aus, als wenn sich einer auf Gnade und Ungnade ergiebt und das
Gewehr streckt. Aber das innerliche, heimliche Hinhängen, Wellen—
schlagen und Wünschen des Herzens, das ist nach meiner Meinung
beim Gebet die Hauptsache, und darum kann ich nicht begreifen,
was die Leute meinen, die nichts vom Beten wissen wollen. Ist
eben so viel, als wenn sie sagten, man solle nichts wünschen, oder
man solle keinen Bart und keine Ohren haben. Das müßte ja