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Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie
vor Zorn. „Sneewittchen soll sterben,“ rief sie, „und wenn
es mein eigenes Leben kostet.“ Darauf ging sie in eine
ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und
machte da einen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön
aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte,
Lust danach bekam; aber wer ein Stückchen davon aß, der
mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich
das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und
so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen.
Sie klopfte an, Sneewittchen streckte den Kopf zum Fenster
hinaus und sprach: „Ich darf keinen Menschen einlassen,
die sieben Zwerge haben mir’s verboten.“ „Mir auch recht,“
antwortete die Bäuerin, „meine Äpfel will ich schon los
werden. Da, einen will ich dir schenken.“ „Nein,“ sprach
Sneewittchen, „ich darf nichts annehmen.“ „Fürchtest du
dich vor Gift?“ sprach die Alte, „siehst du, da schneide
ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß du, den
weißen will ich essen.“ Der Apfel war aber so künstlich
gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Snee¬
wittchen lusterte1) den schönen Apfel an, und als es sah,
daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger
widerstehn, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige
Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Munde,
so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die
Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und
sprach: „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie
Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder
erwecken.“ Und als sie daheim den Spiegel befragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand,
wer ist die schönste im ganzen Land?“
so antwortete er endlich:
„Frau Königin, Ihr seid die schönste im Land.“
Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches
Herz Ruhe haben kann.
12. Die Zwerglein, wie sie abends nach Hause kamen,
fanden Sneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein
Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es
auf, suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf,
kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein,
aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot.
*) Lüsten, lüsten, lüstern, lüstern, Lust oder Verlangen
empfinden; am gebräuchlichsten ist die Redensart: es lüstert (gelüstet)
mich nach etwas.
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