Full text: [Teil 2, [Schülerbd.]] ([Teil 2, [Schülerbd.]])

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Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie 
vor Zorn. „Sneewittchen soll sterben,“ rief sie, „und wenn 
es mein eigenes Leben kostet.“ Darauf ging sie in eine 
ganz verborgene einsame Kammer, wo niemand hinkam, und 
machte da einen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön 
aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, 
Lust danach bekam; aber wer ein Stückchen davon aß, der 
mußte sterben. Als der Apfel fertig war, färbte sie sich 
das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und 
so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. 
Sie klopfte an, Sneewittchen streckte den Kopf zum Fenster 
hinaus und sprach: „Ich darf keinen Menschen einlassen, 
die sieben Zwerge haben mir’s verboten.“ „Mir auch recht,“ 
antwortete die Bäuerin, „meine Äpfel will ich schon los 
werden. Da, einen will ich dir schenken.“ „Nein,“ sprach 
Sneewittchen, „ich darf nichts annehmen.“ „Fürchtest du 
dich vor Gift?“ sprach die Alte, „siehst du, da schneide 
ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß du, den 
weißen will ich essen.“ Der Apfel war aber so künstlich 
gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Snee¬ 
wittchen lusterte1) den schönen Apfel an, und als es sah, 
daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger 
widerstehn, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige 
Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Munde, 
so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die 
Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und 
sprach: „Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie 
Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder 
erwecken.“ Und als sie daheim den Spiegel befragte: 
„Spieglein, Spieglein an der Wand, 
wer ist die schönste im ganzen Land?“ 
so antwortete er endlich: 
„Frau Königin, Ihr seid die schönste im Land.“ 
Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches 
Herz Ruhe haben kann. 
12. Die Zwerglein, wie sie abends nach Hause kamen, 
fanden Sneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein 
Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es 
auf, suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, 
kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, 
aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. 
*) Lüsten, lüsten, lüstern, lüstern, Lust oder Verlangen 
empfinden; am gebräuchlichsten ist die Redensart: es lüstert (gelüstet) 
mich nach etwas. 
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