Full text: [Mittelstufe, [Schülerband]] (Mittelstufe, [Schülerband])

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18. In einem Dachstübchen. 
Gestern abend ging ich mit meiner Mutter und meiner 
Schwester, um einer durch die Zeitung empfohlenen armen 
Frau Wäsche zu bringen. Ich trug das Paket, meine 
Schwester hatte die Zeitung mit den Anfangsbuchstaben 
des Namens und der Adresse. Wir stiegen bis unter das 
Dach eines hohen Hauses und kamen in einen langen Gang, 
wo viele Türen waren. Meine Mutter klopfte an die letzte. 
Eine junge, blonde, sehr abgezehrte Frau öffnete uns. Mir 
schien, als hätte ich diese Frau mit dem blauen Kopftuch 
schon öfter gesehen. „Sind Sie die in der Zeitung empfohlene 
Frau?“ fragte meine Mutter. — „Ja, ich bin’s.“ — „Hier 
haben wir Ihnen ein wenig Wäsche gebracht.“ Sie über¬ 
häufte uns dafür mit Dank und Segenswünschen. 
Inzwischen bemerkte ich in einem Winkel des kahlen, 
dunkeln Stübchens einen Knaben, der vor einem Stuhle 
kniete. Er hatte uns den Rücken zugekehrt und machte 
seine Schularbeiten. Er hatte sein Heft auf den Stuhl ge¬ 
legt, das Tintenfaß stand auf dem Fußboden. Wie war es 
ihm nur möglich, in dieser Dämmerung noch zu schreiben? 
Als ich genauer zusah, erkannte ich den Flachskopf und die 
Barchentjacke Karls, des Sohnes der Gemüsehändlerin. 
Das war ja mein Mitschüler mit dem lahmen Arm. Ich 
sagte es leise meiner Mutter, als die Frau die Wäsche weg¬ 
legte. „Still!“ antwortete meine Mutter, „es ist ihm viel¬ 
leicht peinlich, wenn er dich sieht, weil du seiner Mutter ein 
Almosen bringst; rufe ihn nicht.“ Aber in diesem Augen¬ 
blick wandte sich Karl um und lächelte, als er mich erkannte. 
Ich war so in Verlegenheit, daß mich meine Mutter vor¬ 
wärts schob, damit ich ihn begrüßte. Er erhob sich und 
reichte mir seine Hand. 
„Ich stehe allein mit dem Knaben,“ sagte jetzt seine 
Mutter zu der meinigen; „mein Mann ist seit sechs Jahren 
in Amerika, und ich bin überdies krank, so daß ich nicht 
mehr mit Gemüse hausieren kann, einige Pfennige zu ver¬ 
dienen. Es ist nicht einmal ein Tischchen für meinen armen 
Nicolaisches Lesebuch II. Teil. -
	        
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