Full text: Für die oberen Stufen mehrklassiger Schulen (Teil 2, [Schülerbd.])

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Doch wachsend erneut sich des Stro— 
mes Wut, 
und Welle auf Welle zerrinnet, 
und Stunde an Stunde entrinnet; 
da treibet die Angst ihn, da faßt er sich 
Mut 
und wirft sich hinein in die brausende Flut 
und teilt mit gewaltigen Armen 
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen. 
Und gewinnet das Ufer und eilet fort 
und danket dem rettenden Gotte. 
Da stürzet die raubende Rotte 
hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, 
den Pfad ihm sperrend und schnaubet 
Mord 
und hemmet des Wanderers Eile 
mit drohend geschwungener Keule. 
Was wollt ihr? ruft er, vor 
Schrecken bleich; 
„ich habe nichts als mein Leben, 
das muß ich dem Könige geben.“ 
Und entreißt die Keule dem nächsten 
gleich: 
„Um des Freundes willen erbarmet 
euch!“ 
Und drei mit gewaltigen Streichen 
erlegt er, die andern entweichen. 
Und die Sonne versendet glühenden 
Brand, 
und von der unendlichen Mühe 
ermattet, sinken die Kniee. — 
„O, hast du mich gnädig aus Räubers— 
hand, 
aus dem Strom mich gerettet ans heilige 
Land, 
und soll hier verschmachtend verderben, 
und der Freund mir, der liebende, sterben!“ 
Und horch! da sprudelt es silberhell 
ganz nahe wie rieselndes Rauschen, 
und stille hält er zu lauschen. 
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, 
shneũ 
springt murmelnd hervor ein lebendiger 
Quell, 
und freudig bückt er sich nieder 
und erfrischet die brennenden Glieder. 
Und die Sonne blickt durch der Zweige 
Grün 
und malt auf den glänzenden Matten 
der Bäume gigantische Schatten; 
und zwei Wandrer er die Straße 
iehn, 
will eilenden Laufer vorüber fliehn, 
da hört er die Worte sie sagen: 
„Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.“ 
Und die Angstbeflügelt den eilenden Fuß, 
ihn jagen der Sorge Qualen; 
da schimmern in Wendrots Strahlen 
von ferne die Zinnen von Syrakus, 
und entgegen kommt ihm Philostratus, 
des Hauses redlicher Hüter, 
der erkennet entsetzt den Gebieter: 
„Zurück! du rettest den Freund nicht 
mehr, 
so rette das eigene Leben! 
Den Tod erleidet er eben. 
Von Stunde zu Stunde gewartet' er 
mit hoffender Seele der Wiederkehr; 
ihm konnte den mutigen Glauben 
der Hohn des Tyrannen nicht rauben.“ 
„Und ist es zu spät, und kann ich 
ihm nicht 
ein Retter willkommen erscheinen, 
so soll mich der Tod ihm bereinen. 
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, 
daß der Freund dem Freunde gebrochen 
die Pflicht; 
er schlachte der Opfer zweie 
und glaube an Liebe und Treue.“ 
Und die Sonne geht unter, da steht 
er am Thor 
und sieht das Kreuz schon erhöhet, 
das die Menge gaffend umstehet. 
An dem Seile schon zieht man den 
Freund empor, 
da zertrennt er gewaltig den dichten Chor 
in Henker,“ ruft er, „erwürget; 
da bin ich, für den er gebürget!“ 
Und Erstaunen ergreifet das Volk umher; 
in den Armen liegen sich beide 
und weinen vor Schmerzen und Freude. 
Da sieht man kein Auge thränenleer, 
und zum König bringt man die Wun— 
dermär; 
der fühlt ein menschliches Rühren, 
läßt schnell vor den Thron sie führen. 
Wetzel-Büttner, Deutsches Lesebuch. A. 1L. Teil.
	        
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