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Nun brauehte er mit dem andern nur dureh ein weit geöffnetes
Tor einzufahren. Er war so gerührt, daß er kein Wort sagen
und mit keinem Worte um Verzeihung bitten Konnte; aber seine
beiden Hände reichte er den Nachbarn und war mit ihnen von dem
Augenblieke an ein Herz und eine Seele.
K. Stõöber.
68. Des Müllers Magd.
Auf eines Müllers Hofe hatte sich einst bei Nacht ein ange—
schlossener Hund von seiner Kette losgerissen. Von dem Lärm erwacht
der Herr und ruft die Magd. Die Magd springt schnell aus dem
Belte und eilt hinaus, den Hund wieder an seine Kette anzulegen.
Doch vor der Türe springt er wütend ihr entgegen und beißt sie an
Arm und Fuß wund. Der Müller eilt auf ihr Geschrei stracks mit
den Seinigen herbei. Sie reißt die Türe zu. „Zurück!“ ruft sie,
„der Hund ist toll! Ich bin nun schon gebissen. Laßt mich, ich will
ihn schon allein wieder festschließen.“ Sie kämpft hierauf mit großer
Mühe sich mit dem Hunde herum. Es floß das Blut ihr stromweise
aus der Wunde; doch ließ sie ihn nicht eher los, als bis sie ihn
wieder festgebunden hatte, worauf man ihn alsbald erschoß. Still
und ohne Klagen ging sie in ihre Kammer und erwartete den Tod.
Umsonst war Hilfe, sie befahl sich Gott. Bald brach die Wut aus,
und in wenigen Tagen starb die treue Magd.
Heinrich Caspari.
69. Der Pilger.
In einem schönen Schlosse, von dem schon längst kein Stein
auf dem andern geblieben ist, lebte einst ein reicher Ritter. Er ver—
wendete sehr viel Geld darauf, sein Schloß recht prächtig auszuzieren;
den Armen aber tat er wenig Gutes. Da kam einmal ein armer
Pilger in das Schloß und bat um Nachtherberge. Der Ritter wies
ihn trotzig ab und sprach: „Dieses Schloß ist kein Gasthaus!“ Der
Pilger sagte: „Erlaubt mir nur drei Fragen, so will ich wieder
gehen.“ Der Ritter sprach: „Auf diese Bedingung hin mögt Ihr
immer fragen; ich will Euch gern antworten.“ Der Pilger fragte
ihn nun: „Wer wohnte doch wohl vor Euch in diesem Schlosse?“ —
„Mein Vater,“ sprach der Ritter. Der Pilger fragte weiter: „Wer