Full text: [Teil 5 = 6. Schulj., [Schülerbd.]] (Teil 5 = 6. Schuljahr, [Schülerband])

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71. Ostermorgen. 
1. Die Lerche stieg am Ostermorgen 
empor ins klarste Luftgebiet 
und schmettert’ hoch im Blau verborgen 
ein freudig Auferstehungslied. 
Und wie sie schmetterte, da klangen 
es tausend Stimmen nach im Feld: 
Wach auf, das Alte ist vergangen, 
wach auf, du froh verjüngte Welt! 
2. Wacht auf und rauscht durchs Thal, ihr Bronnen, 
und lobt den Herrn mit frohem Schall! 
Wacht auf im Frühlingstrahl der Sonnen, 
ihr grünen Halm' und Laub er all! 
Ihr Veilchen in den Waldesgründen, 
ihr Primeln weiss, ihr Blüten rot, 
ihr sollt es alle mit verkünden: 
Die Lieb’ ist stärker als der Tod. 
3. Wacht auf, ihr trägen Menschenherzen, 
die ihr im Winterschlafe säumt, 
in dumpfen Lüften, dumpfen Schmerzen 
ein gottentfremdet Dasein träumt! 
Die Kraft des Herrn weht durch die Lande 
wie Jugendhauch, o lasst sie ein! 
Zerreifst wie Simsen eure Bande, 
und wie die Adler sollt ihr sein! 
4. Wacht auf, ihr Geister, deren Sehnen 
gebrochen an den Gräbern steht, 
ihr trüben Augen, die vor Thränen 
ihr nicht des Frühlings Blüten seht! 
Ihr Grübler, die ihr fern verloren 
traumwandelnd irrt auf wüster Bahn, 
wacht auf! Die Welt ist neugeboren. 
Hier ist ein Wunder, nehmt es an! 
5. Ihr sollt euch all des Heiles freuen, 
das über euch ergossen ward! 
Es ist ein inniges Erneuen 
im Bild des Frühlings offenbart. 
Was dürr war, grünt im Wehn der Lüfte, 
jung wird das Alte fern und nah, 
der Odem Gottes sprengt die Grüfte, — 
wacht auf! — der Ostertag ist da! 
Emanuel von Geibel,
	        
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