Full text: Mit Einleitung und Übersicht der Formenlehre (Teil 2 = 4. Schuljahr (Sexta), [Schülerband])

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28. Der Lotsenanführer Tode. 
Ans Diesterwegs Schul-Lesebnch. Bielefeld, 1854. 
Im Oktober des Jahres 1774 wütete der fürchterlichste Sturm¬ 
wind ; die ältesten Leute wussten eines gleichen sich nicht zu 
erinnern, und jedermann stand in banger Besorgnis und betete 
für die armen Leute, deren Leben in zerbrechlichen Schiffen der 
Wut der Winde überlassen sein möchte. Am 9. Oktober erblickte 
man zu Libau, an der Ostsee, in dem zu Russland gehörigen 
Herzogtum Kurland, ein holländisches Schiff, das in den Hafen ein¬ 
laufen wollte, aber des Sturmes wegen nicht hinein gelangen konnte. 
Drei lange Tage und Nächte war es ein Spiel der Wogen, bis es in 
der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober einige hundert Schritte vom 
Ufer auf dem Grunde sitzen blieb. Der Sturm wütete immer 
stärker fort, die tobenden Wellen rissen ein Stück des Schiffes 
nach dem andern hinweg, Todesangst und Verzweiflung ergriff 
das arme Schiffsvolk, da ihm der heulende Sturm und die brausen¬ 
den Wasserwogen alle Hoffnung benahmen, sich zu retten. 
Unter den Zuschauern am Ufer waren vielleicht manche, die 
ihr Leben gern für die leidenden Brüder gewagt hätten, wenn 
es nicht gar zu sichtbar gewesen wäre, dass die Gewalt der empörten 
Elemente ihre Bemühungen vereiteln würde. Endlich kam der 
Fischer und Lotsenanführer Tode ans Ufer. Seit mehr als dreissig 
Jahren war es sein Geschäft, den Schiffen, die mit Wind und 
Wellen kämpften, beizuspringen und sie sicher in den Hafen 
zu führen. Dabei hatte er manche Thräne des Dankes von den 
Wangen der Geretteten hiessen sehen, und manche verirrte Seele 
war, durch die Befreiung aus der Gefahr gerührt, zu Gott zurück¬ 
geführt worden. 
Kaum hatte Tode die Not der Menschen auf dem Schiffe ge¬ 
sehen, so eilte er nach Hause, um die nötigen Anstalten zu ihrer 
Rettung zu treffen. Seine Frau fiel ihm um den Hals, bat ihn 
und flehte, seines Lebens zu schonen, weil es doch unmöglich sei, 
das zerbrochene Schiff zu erreichen. Die Kinder umfassten seine 
Kniee, hielten ihn fest und schrieen: „Hörst du nicht, Vater, 
wie das Meer braust, wie die Winde fürchterlich heulen! Bleibe 
bei uns, wir haben sonst keinen Vater!“ — „Was kümmert mich 
das Brausen des Meeres,“ sprach er, „und das Heulen des Win¬ 
des? Ich höre nichts als das Jammergeschrei der Unglücklichen, 
das durch das Toben der Elemente hindurchdringt. Lasst mich! 
Sie strecken schon ihre Hände nach mir aus, und, — Kinder, —- 
ihr habt noch einen Vater im Himmel, der befiehlt es mir und
	        
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