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und warf ihn in den nächsten Kanal. Mit seinem Raube begab er sich
in eine kleine Stadt in England, wo, wie er glaubte, weder er noch sein
Herr bekannt sein könne. Hier fing er, um kein Aufsehen zu machen,
einen ganz kleinen Handel an. Mit der Zeit schien er durch beständige
Thätigkeit zu Vermögen und dadurch zu Ansehen zu gelangen. Er be—
wies sich dabei stets so rechtlich, daß er überall einen guten Namen hatte
und die Tochter eines angesehenen Bürgers zur Frau erhielt. Da er
nun nach und nach seine verborgenen Schatze, so wie es Gelegenheit gab,
an den Tag brachte, gegen jedermann gefällig und freundschaftlich war
und für das Wohl der Stadt vielen Eifer zeigte, so bekam er Anteil an
der Stadtverwaltung und wurde selbst Bürgermeister. Diese AÄmter ver⸗
waltete er mit Beifall bis auf den Tag, da er einstmals mit seinen
Amtsgenossen zu Gericht saß und ein Missethäter vor ihnen erschien,
der angeklagt war, seinen Herrn ermordet zu haben. Die Zeugen waren
abgehört; die Geschwornen sprachen ihr Schuldig, und die ganze Ver—
sammlung wartete mit Ungeduld, vom Bürgermeister den Ausspruch zu
hören. Aber was geschah? Die Macht des bösen Gewissens war nicht
zu überwältigen, er litt die schrecklichste Qual, änderte die Gesichtsfarbe
und zitterte mehr, als der Missethäter selbst. Man erstaunte und ver⸗
mutele eine plötzliche Krankheit, aber man traute seinen Augen kaum, als
er jetzt von seinem Sitz aufsprang, sich vor die Schranken, dem Mörder
zur Seite, stellte und zu den Richtern sprach: „Geschworne! ihr seht
heute ein Beispiel von der strafenden Gerechtigkeit des Allmächtigen.
Dieser Tag stellt euch nach einer Verhehlung von 30 Jahren einen
größeren Verbrecher dar, als dieser Angeklagte ist!“ Und nun fing er
ne vollständige Erzählung seines Mordes an und bekannte dabei alle
Umstände, die seine Frevelthat noch vergrößerten, indem sein Herr ihn
qus dem Staub erhoben, erzogen und das größte Vertrauen auf ihn ge—
setzt habe. Er erklärte, wie er sich bisher der gerechten Strafe entzogen
und seine Schuld vor aller Welt berborgen habẽ „Aber jetzt,“ fuhr er
fort, „ist meine Stunde gekommen. Ich kann es nicht mehr aushalten
unter Menschen, eine Höllenangst überfällt mich, und mein Gewissen ist
meine Folter. Der ewige Rächer aller Schandthaten will nicht, daß ich
länger ungestraft bleibe, sprecht mein Urteil, ich habe den Tod verdient!“
Der Unglückliche wurde verhaftet, seine eigene Anklage durch schriftliche
Zeugnisse aus Holland bestaͤtigt und der Verbrecher enthauptet.
K. Wagner.
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Lesebuch V. Emil Roth in Gießen.)