Full text: Deutsches Lesebuch für das mittlere Kindesalter (1, [Schülerband])

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193. Der Gefangene. 
Kleiner Fuchs. 
bald gehst du gewiß nicht wieder fort. Er tummelte sich 
lustig in der schwankenden Blume und leckte bald hier, 
bald da von dem süßen Blutenstäube. Mittlerweile kam 
der Abend heran; die Sonne sank immer tiefer, und die 
Tulpe fing an ihren Kelch zu 
schließen; der Schmetterling aber 
dachte nicht an’s Nachhausegehen. 
Mehr und mehr schlossen sich mit 
der untergehenden Sonne die 
Blätter; es wurde dunkel im Pa¬ 
laste, und endlich erinnerte sich 
unser Sommervogel, daß es Zeit 
zum Abschiede sei. Aber es war zu spät, die Tulpe hatte sich 
schon ganz geschlossen und der kleine Näscher war gefangen. 
Vergebens klopfte er mit den Flügeln an die Wände seines 
schönen Kerkers; niemand öffnete ihm, die Blume blieb still 
und ruhig, und unser Schmetterling mußte sich in sein Schick¬ 
sal fügen. Ach, wie lange dauerte ihm die kurze Frühlings¬ 
nacht! Wenn ein Käfer vorbeischwirrte oder ein Nachtfalter, 
wurde er um so ungeduldiger und fing an, heftiger zu klopfen; 
aber niemand erlöste ihn. Nun wollte ihm kein Blütensaft 
mehr schmecken und er seufzte nur immer: „Ach, wäre ich 
doch draußen bei meinen übrigen Gespielen!“ 
Als nun am andern Morgen die Sonne wieder aufging 
und es hell wurde, da begann auch die Tulpe allmählich ihren 
Kelch zu öffnen, und durch das kleine Fensterchen konnte 
die Sonne wieder hineinblinzeln und den armen Gefangenen 
aus seinem unruhigen Schlummer erwecken. 
Ach, wie freute er sich! Eilends kroch er bis zur kleinen 
Luke; aber noch war sie zu eng, und er konnte nur die 
Fühlhörner hinausstrecken und sich an dem frischen Morgen¬ 
winde laben. Mittlerweile stieg jedoch die Sonne immer 
höher und das Fensterchen wurde bald so weit, daß unser 
Schmetterling schon hinausschauen konnte. 
Aber erzog bald das Köpfchen zurück; denn dicht neben 
seinem Gefängnisse stand Agnes, des Gärtners kleine Tochter, 
welche beschäftigt war, einen Blumenstrauß zu pflücken. Sie 
bückte sich näher zur Tulpe, betrachtete sie mit freudigem
	        
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