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96. Thüringen.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Den Schisser im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh'.
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldnes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme Ich glaube, die Wellen verschlingen
Und singt ein Lied dabei,
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Am Ende Schiffer und Kahn,
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei gethan. Heine.
96. (99.) Thüringen.
Thüringen ist und bleibt mir nach den Rheingegenden der liebste
Strich in Deutschland. Es ist etwas so Heimisches, Befreundetes in
dem Boden; wie ein alter herzlicher Jugendfreund heißt es den Wan¬
derer willkommen. Wenn man durch die freudenleere Leipziger Fläche
sich müde und matt hindurchgearbeitet hat, dann empfängt den Pilger
das freundliche Land mit seinen tausendfach wechselnden Reizen. Die
Natur entfaltet sich mit jedem Schritt immer reicher, kühner, üppiger.
Die Bäume bekommen ein ganz anderes Grün, so wie man Thüringens
Boden betritt. Herrliche Berge krönen das Land mit unverwüstlichen
Wäldern; wildschauerliche Gründe und anmutige Thäler laden zu fröh¬
lichem Lebensgenüsse; kühne Felsen predigen mit ewiger Begeisterung die
Allmacht des Schöpfers und enthüllen die urälteste Geschichte der Erde
und das tiefste Wunder ihrer ewigen Umwandlung. Einfältig, treu
und bieder wie seine Natur ist das Volk; in den Thälern des herr¬
lichen Thüringer Waldes wohnt noch der alte deutsche Kerngeist, Gast¬
lichkeit, unverdorbener Sinn, häusliche Treue. Wenn draußen auf dem
platten Lande der Bauer selten Reiz für Musik zeigt, so tönt sie uns
hier fast aus jeder Hütte entgegen. Noch wohnen hier die süßen, ein¬
fältigen Weisen aus guter alter Väterzeit lebendig auf den Lippen des
Volkes, und in den Gesellschaften der Bauern wird noch manch' kindlich
herzliches Lied gehört, das eines weiteren Kreises würdig wäre. Noch
äußert hier das wunderbare Reich der Geister in Märchen und Sagen
seinen geheimen Einfluß auf die Gemüter der Menschen.
Ueber dem ganzen Lande schwebt der Geist der Vorzeit; aus den
.schauervollen Ruinen redet noch Heldenkraft und Ritterliebe in ver¬
nehmlichen Tönen. Manche Quadratmeile Thüriuger Boden ist für
den Dichter und Naturfreund, sowie für den Naturforscher mehr werth
als die ganze Mark Brandenburg sammt Pommerland.
Fr. G. Wetzel.