Full text: (Für das 5. - 8. Hilfsschuljahr) (Teil 3, [Schülerbd.])

94-, Eine Ohrfeige zur rechten Zeit. 
1. In einer Handelsstadt Norddeutschlands lebte ein Kaufmann, 
namens Müller. Ihm begegnete oft ein junger, wohlgekleideter Mensch, 
der ihn immer sehr freundlich begrüßte. Herr Müller erwiderte den 
Gruß zwar gern; aber da er sich nicht erinnerte, den jungen Menschen 
je zuvor gesehen zu haben, so glaubte er, daß dieser ihn mit einem 
anderen verwechsele. 
2. Eines Tages nun war Herr Müller zu einem Freunde ein¬ 
geladen, und als er zur bestimmten Zeit in dessen Haus eintraf, 
fand er den jungen Mann schon mit dem Hausherrn im Gespräch. Der 
Wirt wollte nun seine beiden Freunde miteinander bekannt machen; 
aber der jüngere sagte: „Das ist nicht nötig; wir kennen uns schon 
viele Jahre." — „Ich glaube, Sie sind im Irrtum," erwiderte Herr 
Müller, „ich habe allerdings seit einiger Zeit manchen freundlichen 
Gruß von Ihnen bekommen; aber sonst sind Sie mir ganz fremd." — 
„Und doch kenne ich Sie lange", antwortete der junge Mann, „und 
freue mich. Ihnen heute herzlich danken zu können." — „Wofür wollen 
Sie mir danken?" fragte Herr Müller. „Das ist allerdings eine alte 
Geschichte," versetzte jener; „aber wenn Sie mir einige Augenblicke 
zuhören wollen, so werden Sie sich meiner doch vielleicht noch erinnern. 
3. Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals neun 
Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele Körbe 
voll der schönsten Äpfel zu sehen. Ich bekam mir selten Obst und 
betrachtete daher recht lüstern die herrlichen Äpfel. Die Eigentümerin 
sprach mit ihrer Nachbarin und hatte deshalb ihrer Ware den Rücken 
zugekehrt. Da kau: mir der Gedanke, einen einzigen Apfel heimlich 
zu nehmen: ich dachte, die Frau behielte ja doch noch eine große 
Menge. Leise streckte ich meine Hand aus und wollte eben ganz vor¬ 
sichtig meine Beute in die Tasche stecken; da bekam ich eine derbe 
Ohrfeige, so daß ich vor Schrecken den Apfel fallen ließ. ,Junge!' 
sagte zugleich der Mann, der mir die Ohrfeige gegeben hatte, ,wie 
heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß du zum erstenmal 
dagegen sündigst; laß es zugleich das letztemal sein!' Vor Scham 
wagte ich kaum die Augen aufzuschlagen; aber doch ist mir das Antlitz 
jenes Mannes unvergeßlich geblieben. Immer von neuem glaubte 
ich die Worte zu hören; ,Laß es das letztemal sein!' Ich nahm mir 
fest vor: ,Ja, es soll gewiß das erste- und letztemal gewesen sein!'
	        
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