Lorenzen: Wer ist mein Nächster?
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Es will kein Brot, keinen Apfel, keine Kirsche. Die Mutter soll an
seinem Bett sitzen, seine Hand halten, weiter will das Kind nichts.
Die Mutter läßt alle Arbeit liegen. Sie hält Doras Hand. Und
die brennt wie Feuer. Nun kriegt das Kind plötzlich einen ganz
blauen Kopf, es greift mit den Händen um sich. Es kommt ein
böser Husten, und es kann keine Luft mehr kriegen. Die Mutter
schreit auf: „Mein Kind, mein Kind!"
Und dann ist alles vorüber. Es sinkt wieder auf seine Kissen
zurück. Nun sieht es so weiß aus, hat die Augen geschlossen und
atmet ganz leise.
Die Mutter läuft zur Nachbarin und bittet die, daß sie den
Doktor holt. Aber schnell soll sie sein und ihn gleich mitbringen.
Als die Mutter wieder in die Kammer kommt, hat Dora die
Augen geöffnet. Sie sagt ganz leise: „Es tut so weh." Sie zeigt
auf ihren Hals. Die Mutter nimmt ihr das Tuch davon, taucht
es in Wasser und bindet einen dicken Schal darüber.
Dann setzt sie sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett und
erzählt der Kleinen von Sneewittchen und den sieben Zwergen.
Da schließt Dora die Augen und schläft.
Leise steht die Mutter auf, geht ans Fenster und guckt hinaus:
„Kommt er noch nicht, der Doktor?" Dann schleicht sie an die
Tür und horcht, ob er vielleicht auch schon die Treppe heraufkommt.
Ja, es kommt jemand. Aber der ruft: „Junge, wenn du mir
den Ball nicht gibst, kriegst du Wichse!" Und dann hört sie, wie
sich die beiden im Treppenhaus schlagen und dann die Treppe
hinunterspringen, einer hinter dem andern her.
Und dann hört sie, wie unten ein Auto tutet. Und dann
kommt der Doktor herauf. „Jst's schlimmer geworden, Frau Neu¬
mann?" fragt er.
„Herr Doktor, mein Kind erstickt!" sagt die Mutter und bringt
ihn ans Bett. Er nimmt Doras Hand und guckt auf die Uhr. Er
brummt vor sich hin. Und dann kommt wieder der Husten. Die
kleine Brust röchelt. Wieder kann Dora keine Luft kriegen.
Der Doktor nimmt sein Buch und schreibt etwas hinein. Er
reißt einen Zettel heraus und gibt ihn der Mutter: „Frau Neu¬
nrann, lassen Sie dies sofort in der Apotheke machen und geben
Sie dem Kind alle Stunden davon einen Eßlöffel voll. Und
wenn's nicht besser wird, müssen Sie mich heute nacht rufen. Ich
muß den Hals dann schneiden. Adieu."