Full text: [Teil 2 = Oberstufe, [Schülerbd.]] (0002)

verdunstet und wieder hinauf in die Wolken gezogen. Er wird mit ihnen 
weiter reisen, wieder zu Schneeflocken werden und auch andern Kindern 
hübsche Geschichten erzählen. Hermann Wagner. 
156. Vom Tannenbaum und seiner Reise. 
1. Draußen im'Walde, irgendwo im Sauerlande, stand ein kleiner 
Tannenbaum. So kerzengerade und schlank war er gewachsen, wie es sich 
für einen richtigen Tannenbaum gehört. Er war erst sechs Jahre alt, 
aber er hatte doch schon viel gesehen, wenn er auch immer auf demselben 
Plätzchen stehen mußte. Kleine weiße und rosenrote Wölkchen segelten 
über ihn am blauen Himmel dahin, itiib des Nachts blitzten die Sterne; 
zu seinen Füßen standen weiße Sternblumen und blaue Glockenblumen. 
Und so viel Besuch bekam er: Käfer rmd Schmetterlinge, Meisen und 
Kreuzschnäbel und Rotkehlchen; sogar ein kleines Käuzchen kam 'mal zu ihm, 
setzte sich ans seine Zweige und klagte durch die Nacht, so daß der kleine 
Tannenbaum ganz traurig wurde. Auch ungestüme Gäste kamen: der 
Regen und der wilde Wind; aber es war lustig, sich ein wenig mit ihnen 
zu raufen, und stark und geschmeidig wurde man dabei. 
2. Augenblicklich steckte der kleine Tannenbaum in einem weichen, 
weißen Mantel und Käppchen aus Schnee und rührte kein Glied, um 
nichts von der Pracht zu verlieren. Da kam eines Tages ein ganz fremder 
Gast in den Wald, ein Herr aus einer großen Stadt am Rhein, und 
hinter ihm vier starke Männer mit Äxten. Es war gut, daß der Förster 
dabei war, sonst hätte man sich fürchten können. Der fremde Herr sah 
die Tannenbäume von oben bis unten an, auch unsern kleinen Tannen¬ 
baum, zeigte mit der Hand auf ihn, und eins, zwei, drei! hatte einer der 
Männer ihn gepackt und abgehauen. Bitter weh war dem Tannenbaum 
zumute, und er wußte nicht, was weiter mit ihm geschah. 
3. Viel später lag er dann mit anderen Tannenbäumen, alle mit 
fest zusammengebundenen Ästen, in einem dunkeln Eisenbahnwagen und 
fuhr nach der Stadt am Rhein. Und wieder später standen sie alle auf 
einem großen Platz mitten in der fremden Stadt; die Äste hatte man 
ihnen gelöst, so daß jeder sehen konnte, wie hübsch und schlank sie ge¬ 
wachsen waren. Unser kleiner Tannenbaum stand nur kurze Zeit da; 
dann kam eine Frau, freute sich über ihn, kaufte ihn und nahm ihn mit 
nach Hause. Wißt ihr, was da mit ihm geschah? O ja, ihr wißt es 
alle und sollt es jetzt erzählen! 
4. Da hat der kleine Tannenbaum allen Schmerz imb alles Heimweh 
vergessen, und sein Herz ist voll Freude gewesen, daß er ein Christbaum 
hat werden dürfen. Grete Pasiö.
	        
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