Full text: Deutsches Lesebuch ([Teil 3 = 5. und 6. Schulj, [Schülerbd.]])

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II. Prosa. 
nicht gut sei, einem großen Herrn etwas abzuschlagen. Vom Knurren 
kam es zum Beißen, und ehe sich der Bäcker von seiner grünen Bank 
vor dem Hause erheben konnte, lag sein Hündlein mit zermalmtem 
Genick vor ihm, und der Feldmann lief mit dem eroberten Knochen 
und mit eingezogenem Schweif davon. Sehr ergrimmt und entrüstet 
warf der Herr des Ermordeten dem Raubmörder einen gewaltigen 
Stein nach. Aber was half's? Die Handgranate flog nicht dem 
Hunde an den Kopf, sondern dessen Besitzer durch das Fenster, mitten 
auf den Tisch, an dem er gerade die Augsburger las, und machte 
in den Wiener Kongreß ein Loch. Ohne zu fragen, woher der Schuß 
gekommen sei, riß der Gerber den zertrümmerten Fensterflügel auf 
und fing an zu schimpfen. Der Nachbar in der weißen Schürze und 
mit den aufgestülpten Hemdärmeln blieb nichts schuldig, Kinder und 
Leute liefen zusammen, und — hätte ich ihn nur sehen können! — 
Satan stand zgewiß in einer Ecke der Gasse und blies mit vollen 
Backen in das Feuer. Der Bäcker verließ den Kampfplatz zuerst, 
aber nur um seinen Nachbar bei Gericht zu belangen. Die Sonne 
ging über dem Zorn der beiden Männer unter, und den Tag darauf 
wurden sie vor Gericht geladen. Der Gerber wurde verurteilt, den 
totgebissenen Mordax mit einem Reichsthaler zu büßen, da doch, wie 
er sich als Jagdliebhaber ausdrückte, der kleine Schäker nicht einen 
Groschen wert gewesen sei. Der Bäcker mußte für den zertrümmerten 
Fensterflügel und das Loch in der Zeitung nicht viel weniger bezahlen 
und sich mit seinem Widerpart in die aufgelaufenen Kosten teilen. 
Von nun an war zwischen den beiden Familien eine große Kluft 
befestigt. Hinüber und herüber über die Gasse flog kein freundliches 
Wort mehr. Ging die Gerberin links zur Kirche, so nahm die Nach— 
barin ihren Weg rechts; saß der Bäcker im Posthause außen in der 
Stube beim Bier, so nahm der Gerber seinen Platz im Kabinett. 
Für den ganz schuldlosen Teil, für die Kinder des Gerbers, gaben 
weder der Osterhase, noch der gute Märtel, noch das heilige Kind 
durch die Frau Patin mehr etwas ab. 
So ging es fast drei Jahre. Einmal, am Ende des dritten, 
setzten sich der Gerber und seine Hausfrau nachmittags an den Tisch, 
um ihren Kaffee zu trinken. Aber als die Gerberin die Tischlade 
herauszog, war kein Wecken zum Einbrocken darin. Ihr kleiner Helm, 
der neben ihr auf den Zehen stand und auch hineinschaute, rief sogleich: 
„Mutter, einen Groschen! Ich hole das Brot.“ Dann wandte er sich in 
seiner kindlichen Eilfertigkeit an den Vater und sagte: „Heut aber laufe
	        
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