— 171 —
188. Das Honig schneiden.
Der Großvater erzählte den Kindern:
In unserer Nachbarschaft wohnte, wie ihr schon von mir gehört
habt, unser alter Pfarrer. Noch heute, nachdem so viele Jahre
vorübergegangen sind, sehe ich ihn im Geiste vor mir in seinem
ehrwürdigen, silberweißen Haare, mit den milden, wohlwollenden
Zügen seines Angesichts. Oft durfte ich ihn in seinem schönen
Garten besuchen, und manche Stunde verplauderte er dort mit
mir in der schattigen Laube von Waldrebe, die er einst selbst
gepflanzt hatte. Im entlegensten Teile des großen Gartens hatte er
in einer langen Reihe seine Bienenstöcke aufgestellt, und oft führte er
mich dorthin, um mich auf das Treiben der munteren Tierchen
aufmerksam zu machen.
Eines Tages bestellte mir Fräulein Susanne, die Haushälterin
des Pfarrers, daß ihr Herr heute den Honig aus seinen Körben
schneiden wolle und mich einlade, ihm dabei zu helfen. Gern ging
ich zur festgesetzten Stunde zu ihm in sein Zimmer und wurde
aufs herzlichste empfangen.
Der alte Herr hatte die Masken von Eisendraht mit ihrem großen
Sacke, der wie die Kapuze der Schornsteinfeger über die Schultern
fällt, schon zurechtgelegt, ebenso die Handschuhe von grober Leinwand,
die bis zum Ellenbogen reichen. Ich mußte meine Beinkleider sorg¬
fältig in die Stiefel stecken. „Die fleißigen Insekten," sprach lächelnd
der Pfarrer, „wollen sich ebensowenig wie die Menschen ihr mühsam
erworbenes Eigentum nehmen lassen und dringen mit ihren kleinen
Dolchen, wo sie nur können, auf die Räuber ein. — Wir fangen
damit an, die Körbe auszuräuchern; ich habe schon alles bereit gelegt."
Damit zeigte er auf den alten Leinwandlappen, die großen, scharfen
Löffel und die Töpfe, welche uns zum Honigschneiden dienen sollten.
„Ob es dieses Mal reichlich Honig geben wird?" fragte ich. „O
gewiß," entgegnete er, „wir werden eine gute Ernte haben. An Blumen
hat es in diesem Jahre nicht gefehlt, an Honigsaft auch nicht. Ich
wette, daß jeder Korb durchschnittlich dreißig Pfund Honig gibt.
Doch muß man auch sorgen, daß in den Stöcken Nahrung übrig¬
bleibt für die überwinternden Bienen. In kalten Wintern bedürfen
die Bienen mehr Honigspeise als in gelinden. Und nach einem so
heißen Sommer ist ein langer und strenger Winter zu erwarten."
Wir setzten die Masken auf, schlugen die Kapuzen sorgfältig zurück
und zogen unsere Handschuhe an. Susanne schloß die offenstehenden