Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen ([Teil 3, [Schülerbd.]])

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von Indien; ich, seine einzige, unglückliche Tochter, heiße Lusa. 
Jener Zauberer, Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins 
Unglück gestürzt. Er kam eines Tages zu meinem Vater und 
begehrte mich zur Frau für seinen Sohn Mizra. Mein Vater aber, 
der ein hitziger Mann ist, ließ ihn die Treppe hinunterwerfen. Der 
Elende wußte sich unter einer anderen Gestalt wieder in meine 
Nähe zu schleichen, und als ich einst in meinem Garten Erfrischungen 
zu mir nehmen wollte, brachte er mir, als Sklave verkleidet, einen 
Trank bei, der mich in diese abscheuliche Gestalt verwandelte. 
Während ich vor Schrecken ohnmächtig war, brachte er mich hierher 
und rief mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren: 
„Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, 
bis an dein Ende, oder bis jemand aus freiem Willen dich, selbst in 
dieser schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt. So räche ich mich 
an dir und deinem stolzen Vater." Seitdem sind viele Monate 
verflossen. Einsam und traurig lebe ich in diesem Gemäuer, selbst 
den Tieren ein Greuel. Die schöne Natur ist vor mir verschlossen; 
denn ich bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches 
Licht über dieses Gemäuer ausgießt, fällt der verhüllende Schleier 
von meinem Auge." 
Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder 
'die Augen aus; denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen 
entlockt. 
Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nach¬ 
denken versunken. „Wenn mich nicht alles täuscht," sprach er, „so 
findet zwischen unserm Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; 
aber wo finde ich den Schlüssel zu diesem Rätsel?" Die Eule ant¬ 
wortete ihm: „O Herr, auch mir ahnt dies; denn es ist mir einst in 
meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit worden, 
daß ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich wüßte 
vielleicht, wie wir uns retten könnten." Der Kalif war sehr erstaunt 
und fragte, auf welchem Wege sie meine. „Der Zauberer, der uns 
beide unglücklich gemacht hat," sagte sie, „kommt alle Monate einmal 
in diese Ruinen. Nicht weit von diesem Gemache ist ein Saal. Dort 
pflegt er dann mit vielen Genossen zu schmausen. Schon oft habe 
ich sie dort belauscht. Sie erzählen dann einander ihre schändlichen 
Werke; vielleicht daß er dann das Zauberwort, das ihr vergessen 
habt, ausspricht." 
„O teuerste Prinzessin!" rief der Kalif, „sag an, wann kommt 
er, und wo ist der Saal?"
	        
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