Willmann: Der Schiffbruch.
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Schon war er so nah, als eines Rufenden Stimme erschallt, da
hörte er ein dumpfes Getös an den Klippen des Meeres. Brüllend
brandeten mächtige Wogen an der Felsenküste, und alles war von Meeres¬
schaum bedeckt. Da waren keine Häfen, Schiffe zu empfangen, und keine
Buchten, nur schroffes Gestade, Felsen und Riffe. Da trieb ihn eine
große Woge an das steinige Gestade, daß ihm die Haut geschunden und
die Gebeine zermalmt worden wären, wenn ihm nicht Athene, die Göttin
mit den hellen Augen, eingegeben hätte sich mit beiden Armen an den
Felsen zu klammern. So entging er der Woge diesmal; doch ein zweites
Mal schlug sie heftig heranbrausend auf ihn nieder und schleuderte ihn
weithin ins Meer. Doch er entrang sich der Welle, die ans Gestade
brüllend zurückschlug, und schwamm seitwärts weiter, immer spähend,
ob kein flaches Uferland und keine Meeresbuchten zu finden seien. So ge¬
langte er an die Mündung eines wallenden Stromes, und da kam ihm
die beste Stelle in Sicht, flach, ohne Felsen und vor dem Winde ge¬
schützt. Er erkannte die Flußströmung und erreichte den rettenden
Uferrand. Da wurden ihm die Kniee und die markigen Arme schlaff;
das Meer hatte seine Kraft gebrochen; sein Leib schwoll an, und Meer¬
wasser quoll ihm in Menge aus Nase und Mund; ohne Atem, ohne
Laut lag er bewußtlos da, zum Tode ermüdet.
Aber als ihm der Odem und die Lebenskraft wiedergekehrt war,
band er die Hauptbinde der Göttin ab und ließ sie in den meer-
wärts rauschenden Fluß gleiten; die Wogen trugen sie stromab, und
Leukothea fing sie auf. Er aber ging abseits vom Fluß in den Wald,
den er nahe am Wasser auf einer Anhöhe..fand, und barg sich unter
zwei Büschen von wildem und von fruchtbarem Ölbaum, die in einander ge¬
wachsen waren. Sie durchwehte weder der feuchten Winde Ungestüm,
noch drang da die leuchtende Sonne mit ihren Strahlen jemals ein,
noch schlug der Regenguß durch, so dicht waren sie in einander ver¬
schränkt. Unter diese schlüpfte Ödysseus und häufte sich mit den Armen
ein weites Lager; denn Blätterstreu war reichlich da, genug, um zwei
oder drei Männern in der Regenzeit auch beim stärksten Unwetter
Schutz zu gewähren. Freudig betrachtete der hohe Dulder Odysseus
sein Lager, legte sich mitten hinein und überschüttete sich ganz mit
Blättern. Wie wenn ein Landmann, der weit draußen im Felde wohnt
und keine Nachbarn hat, seinen Feuerbrand in dunkle Asche birgt, damit
er sich den Samen der Glut erhalte und nicht von andern Feuer zu
holen brauche, so vergrub sich Odysseus in seine Blätter. Und Athene
schloß ihm die lieben Wimpern und goß ihm Schlaf auf die Augen,
auf daß ihm Erquickung werde von der harten Mühsal.
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