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Die Taube pflegt ihre Jungen mit emsiger Liebe, jedes Korn weicht sie
ihnen im Kropfe auf, und verläßt das schüchterne Vögelchen den Schlag zum
ersten Male, so umflattert sie es fürsorgend von allen Seiten. Oft wird sie
ein Opfer ihrer Liebe. Man kann nicht ohne inniges Mitleid sehen, wie diese
treuen Tiere bei Feuersbrünsten sich mitten durch die Glut- und Dampfwirbel
schwingen und in verzweifelten Flügen das Taubenhaus umkreisen, bis endlich
der Brand ihren Fittich ergreift und sie in die Flamme hinabstürzen.
138. Das Spinnlein.
Mach Hebel.)
10 Nein, seht mir doch das Spinnlein an, Es spinnt und webt und hat nicht Rast,
wie's zarte Fäden zwirnen kann! allüberall, man staunet fast.
Gelt, Base, das verstehst du nicht? Des Pfarrers Hans sagt obendrein,
Ich sag' es dreist dir ins Gesicht. zehnfach soll jeder Faden sein;
Es macht's so niedlich und so nett, doch glaub' ich's nicht, denn sagt mir an,
15 möcht' nicht, daß ich's zu haspeln hätt'. wes Aug' es sehn und zählen kann.
Wo nahm's den Flachs, so zart und fein? Jetzt putzt es seine Händchen ab,
Bei wem mag er gehechelt sein? steht still und haut den Faden ab.
Gar manche Frau, das glaube mir, Jetzt sitzt's im neuen Sommerhaus,
ging' auch dahin, wenn man's erführ! schaut auf die lange Straß' hinaus
Jetzt sieh mir, wie's das Füßchen setzt, und spricht: Man baut sich fast zu Tod.
den Armel streift, die Finger netzt. Doch steht das Haus, ist all die Not!
Jetzt zieht's den langen Faden aus, Es wogt und schwankt in freier Lust,
zieht eine Brück' an Nachbars Haus, im Sonnenstrahl, im weichen Duft,
baut eine Landstraß' in die Luft, und jeder Strahl umspielt es frei —
die morgen hängt voll frischem Duft; Dem Spinnlein ist so wohl dabei;
baut einen Fußsteg nebendran, es sieht dem Tanz der Mücklein zu
daß hier und da es wandeln kann. und denkt sich: Käm doch eins herzu!
Es spinnt und wandelt auf und ab, O Vierlein, hast mein Herz entzückt;
potztausend, in Galopp und Trabl — so klein und dennoch so geschickt!
Jetzt geht's ringsum —wo an, wo aus? Wer hat dich solche Kunst gelehrt?
Nun bildet sich ein Ringlein draus! Ich denk', Er, der uns alle nährt,
Jetzt schießt es zarte Fäden ein; der mild und gnädig alle liebt,
sollt's etwa gar gewoben sein? und, glaub's, auch dir ein Teilchen giebt.
Jetzt ist's erstaunt, jetzt hält es still Sieh an die Fliege! Nein, wie dumm,
86 und weiß nicht recht, wohin es will; sie rennt ihm fast das Häuschen um.
es geht zurück, man sieht's ihm an, Nun fleht und schreit sie: Weh und Achl
was Wicht'ges fehlt ihm noch daran. Ja, Fliege, ja, du treibst's danach!
Doch denkt's: Es hat damit nicht Eil', Mit offnen Augen muß man sehn
ich halte mich nur auf derweil. und nie in fremde Grenzen gehn.
Schau nur, das Spinnlein merkt's geschwind,
es zuckt, es springt — hat's wie der Wind
und denkt: Ich hatte Müh und Not,
nun schmeckt mir auch mein Abendbrot!
Drum sag' ich ja: „Zur rechten Frist
sorgt Gott, der keinen je vergißt.
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