Full text: Theodor Schachts Lehrbuch der Geographie alter und neuer Zeit

876 Europa — Österreich-Ungarn. 
magyarische Herrschaft sich niederließ. Dies allgemeine Elend — das sich am klag- 
lichsten darstellt im Verderben der Finanzen, der Justiz, der Schulen, der Landstraßen — 
ist so furchtbar mahnend hereingebrochen, daß jetzt sogar die Magyaren Schrecken ergreift.. 
Die Korruption hat einen Grad eingenommen — schreibt man aus Ungarn selbst — 
von dem man im übrigen Europa gar keinen Begriff hat. Und was thun die Magy¬ 
aren solchen Gefahren gegenüber? Eben strecken sie die Hände aus, durch ein sogenanntes 
Arrondirungsgesetz die deutsch-ungarische Nationalität ins Herz zu treffen — die 
Deutschen, durch welche doch die verschiedenen ungarischen Nationalitäten früher vor 
der Berschlingung durch die Türken geschützt wurden und nun vor der durch die Russen 
geschützt werden, die Deutschen, durch welche alle diese Völkerschaften, die ohne Aus¬ 
nahme früher auf niedriger Bildungsstufe standen, allmählich zu edlerer Kultur empor« 
gebracht und auch dadurch geistig genährt wurden, daß fort und fort Schaaren von 
Deutschen, sobald sie unter Magyaren und Slaven einsam saßen, in diesen ausgingen,, 
die Deutschen, denen doch Ungarn alles verdankt, was es an Bildung, Kunst, Gewerb¬ 
fleiß und Handel besitzt. „Nachdem man den Gerichten und Gemeindevertretungen 
der Deutschen die magyarische Sprache aufgezwungen, dentsch-gesinnte Beamte aller« 
orten unterdrückt, den Schulen und öffentlichen Anstalten der Deutschen möglichst Ab¬ 
bruch gethan, soll jetzt dieses Gesetz ihrer Nationalität den letzten Rückhalt nehmen, 
indem man ihre alten Volksgebiete zerstückelt, damit die Nationalität der kleinen Bruch- 
stücke uuter den Magyaren, Slovaken, Serben und Walachen, denen sie zugewiesen 
werden, ersticke, und diese Fremden Herr werden über ihr nationales und ihr Stiftungs¬ 
vermögen." — Ebenso oder wo möglich noch erbitterter als unter den Deutschen Ungarns 
ist die Stimmung unter den Serben der Woiwodina, und die seit dem 1. Nov. 1872 
dem Ungarnreiche einverleibten Banatec Militärgrenzer (Semlin bis Orsowa, nämlich 
das Deutsch-, das Rumänisch- und das Serbisch-Banater Regiment, sowie das Titler 
Tschaikisten-Bataillon), die an die Gerechtigkeit und Ehrlichkeit der deutschen Militär- 
Verwaltung gewöhnt und ihrer Knltnrüberlegenheit über ihre Stammesgenossen außer- 
halb der Grenze sich bewußt sind, haben durch die jüngste Abgeordnetenwahl wie ein 
Mann gegen die Segnungen der magyarischen Junkerwirthschast, unter die sie sich Plötz- 
lich versetzt sehen, protestirt. Der Grimm, der in den schwer beleidigten Völkerschaften 
kocht, ist kaum mehr zu ersticken. Ob durch solche Erfahrungen die Magyaren wohl 
ans ihrer nationalen Verblenduug und aus dem über das ganze Land verbreiteten Un- 
glücksnetz der Adels-, Titel-, Stellen-und Goldjägerei herauskommen werden? Im In- 
teresse der allgemeinen Kultur sowohl, als des großen zukunftsreichen Landes, in welchem 
so viel Patriotismus und Willenskraft zu Hause, ist es zu wünschen. 
b) D i e einzelnen Länder. 
1) Ungarn. Die Hälfte von Grund und Boden ist Wiese, Weide und Wald; 
1Js sehr gut zum Ackerbau. Das Weinlaud beträgt ca. 50 Q.-M. Das Schulwesen 
Ungarns ist schlecht bestellt. Noch nahezu 2000 Gemeinden aller) entbehren jeder 
Unterrichtsanstalt; von den schulpflichtigen Kindern besuchen mir 48°/o die Schule, doch 
soll im Jahre 1871 die Zahl aus 60°/° gestiegen sein; > Mill. Kinder hat bloß winters 
Unterricht und 200000 haben keine Schulbücher; vou 100 heiratenden Mädchen können
	        
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