Full text: Ein Lese- und Lehrbuch für obere Klassen der Volksschulen (Theil 4)

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gethan? Hat er dir nicht gefolgt? — Mutter. Ja wol 
nicht gefolgt!-Fritz, wie heißt das siebente Gebot? 
Fritz. Du sollst nicht stehlen- Meinst du etwa., ich 
wüßte nicht einmal, wie das siebente Gebot heißt? — ^ 
Mutter. Dein älterer Bruder Karl weiß es schon län¬ 
ger und bester als du, und doch — — er bat es nicht 
befolgt! — Fritz. Nicht möglich! Karl, der gute Karl 
hätte gestohlen! Da wäre Karl ja ein Dieb! — 
Mutter. Wer Obst und Geld stiehlt, ist der kein Dieb? 
Fritz. Ja wol, ja wol istder's! Aber hätte der ehrliche 
Karl das gethan, der jeden Bissen mit uns theilt? 
Mutter. Leider! gestern sah ich, daß er sein Kleider- 
Kästchen so schnell zuschloß und ganz verlegen that, als 
ich ihn darüber antraf. Es fiel mir auf, aber ich dachte 
noch nicht Arges. Heute sehe ich, gegen alle Gewohn¬ 
heit, den Schlüssel abgezogen. Ich suche und finde den 
Schlüssel in seinem Jäckchen. Ich schließe auf, und, o Gott, 
was sehe ich! Ach, er hat ganz vergessen, was sein ster¬ 
bender Vater uns sagte: Wir sind wol arm, aber wir 
werden Glück und Segen haben, wenn wir Gott fürchten, 
die Sünde meiden und Gutes thun. 
Fritz (weint). Und woher weißt du denn, daß er den 
schönen Spruch vergessen hat? — 
Mutter. Ach, ich fand in seinem Lädchen zwölf Aepfel, 
ein ganzes Häufchen Nüsse und acht Groschen baares Geld. 
Das alles hat er nicht mit Recht; denn er hielt es geheim 
und hakte kein gutes Gewissen, als ich ihn darüber antraf. 
Fritz (der Mutter um den Hals fallend). O, freue 
dich, freue dich, liebe Mutter! Karl ist noch immer unser 
ehrlicher Karl. Aber ich muß ihm wehe thun, ich muß 
sein Geheimniß verrathen. — Mutter. Und welches? daß 
er gestohlen hat? Und darüber soll ich mich freuen? 
Fritz. Nein, o nein doch! Schon seit einem Vierteljahre 
spart er alle Heller zusammen — und auch ich habe dazu 
beigesteuert — um dir eine Freude zu machen. Du sollst 
erfahren, wie ehrlich wir zu den acht Groschen gekommen 
sind. Wir haben sie beim Herrn Wendler verdient. Du 
weißt, er gibt den Kindern gern etwas, wenn sie ihm 
einen Gefallen thun. Auch die Aepfel und Nüsse sind nicht 
gestohlen. Die Nüsse haben wir gekauft und die Aepfel 
sind uns geschenkt. Für das Geld hatten w;r ein Paar
	        
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