Full text: [Teil 1 = Sexta, [Schülerband]] (Teil 1 = Sexta, [Schülerband])

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IV. Märchen. 
Grausen; sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das 
andere dorthin, über Felsen und Klüfte, und verlor eins das andere. 
Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldener in dem dicken 
Walde umher, fand auch weder einen seiner Brüder noch die 
Hütte seines Vaters noch sonst die Spur eines Menschen; denn 
es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den anderen 
gestellt und eine Kluft unter die andere. Die Braunbeeren, die 
überall umherrankten, stillten seinen Hunger und löschten seinen 
Durst, sonst wäre er gar jämmerlich gestorben. Endlich am dritten 
Tage — andere sagen erst am sechsten — wurde der Wald hell 
und immer heller, und da kam er zuletzt hinaus auf eine schöne, 
grüne Wiese. Da war es ihm so leicht um das Herz, und er atmete 
mit vollen Zügen die freie Luft ein. Auf der Wiese waren Garne 
ausgelegt; denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing die Vögel, 
die aus dem Walde flogen, und trug sie in die Stadt zu Kaufe. 
„Solch ein Bursche ist mir gerade vonnöten,“ dachte der Vogel¬ 
steller, als er Goldener erblickte, der auf der grünen Wiese nahe 
an den Garnen stand und in den weiten, blauen Himmel hineinsah 
und sich nicht satt sehen konnte. Der Vogelsteller wollte sich 
einen Spaß machen; er zog seine Garne, und — husch! war Gol¬ 
dener gefangen und lag unter dem Garne gar erstaunt; denn er 
wußte nicht, wie das geschehen war. „So fängt man die Vögel, 
die aus dem Walde kommen,“ sprach der Vogelsteller, laut lachend. 
„Deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist wohl ein ver¬ 
schlagener Fuchs; bleibe bei mir, ich lehre dich auch die Vögel 
fangen!“ Goldener war gleich dabei. Ihm deuchte unter den 
Vögeln ein gar lustig Leben, zumal er ganz die Hoffnung auf¬ 
gegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden. „Laß 
erproben, was du gelernt hast!“ sprach der Vogelsteller nach 
einigen Tagen zu ihm. Goldener zog die Garne, und bei dem 
ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken. „Packe dich mit 
diesem weißen Finken!“ schrie der Vogelsteller, „du hast es mit 
dem Bösen zu tun!“ und so stieß er ihn gar unsanft von der Wiese, 
indem er den weißen Finken, den ihm Goldener gereicht hatte, 
unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat. 
Goldener konnte die Worte des Vogelstellers nicht begreifen; 
er ging getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich noch 
einmal vor, die Hütte seines Vaters zu suchen. Er lief Tag und
	        
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