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5. Aber matt auf unsre Zonen
Fällt der Sonne schräges Licht;
. Nur die Blätter kann sie färben.
Aber Früchte reift sie nicht.
6. Doch der Norden auch will leben,
Und was lebt, will sich erfreun;
Darum schaffen wir erfindend
Ohne Weinstock uns den Wein.
7. Bleich nur ist's, was wir bereiten,
Auf dem häuslichen Altar;
Was Natur lebendig bildet,
Glänzend ist's und ewig klar.
8. Aber freudig aus der Schale
Schöpfen wir die trübe Flut;
Auch die Kunst ist Himmelsgabe,
Borgt sie gleich von ird'fcher Glut.
9. Ihrem Wirken freigegeben
Ist der Kräfte großes Reich;
Neues bildend aus dem Alten,
Stellt sie sich dem Schöpfer gleich.
10. Selbst das Band der Elemente
Trennt ihr herrschendes Gebot,
Und sie ahmt mit Herdesflammen
Nach den hohen Sonnengott.
11. Fernhin zu den sel'gen Inseln
Richtet sie der Schiffe Lauf,
Und des Südens goldne Früchte
Schüttelt sie im Norden auf.
12. Drum ein Sinnbild und ein Zeichen
Sei uns dieser Feuersaft,
Was der Mensch sich kann erlangen
Mit dem Willen und der Kraft.
Schiller.
85. Die Gunst des Augenblicks.
1. Und so finden wir uns wieder
In dem heitern bunten Reih'n,
Und es soll der Kranz der Lieder
Frisch und grün geflochten fein.
2. Aber wem der Götter bringen
Wir des Liedes ersten Zoll?
Ihn vor allen laßt uns singen,
Der die Freude schaffen soll.
3. Denn was frommt es, daß mit Leben
Ceres den Altar geschmückt,
Daß den Pnrpurfaft der Reben
Bacchus in die Schale drückt?
4. Zückt vom Himmel nickt der Funken,
Der den Herd in Flammen setzt,
Ist der Geist nicht feuertrunken,
Und das Herz bleibt unergetzt.
5. Aus den Wolken muß es fallen,
Aus der Götter Schoß das Glück,
Und der mächtigste von allen
Herrschern ist der Augenblick.
6. Von dem allerersten Werden
Der unendlichen Natur
Alles Göttliche auf Erden
Ist ein Lichtgedanke nur.
7. Langsam in dem Lauf der Horen
Füget sich dor Stein zum Stein,
Schnell, wie es der Geist geboren,
Will das Werk empfunden fein.
8. Wie im hellen Sonnenblicke
Sich ein Farbenteppich webt,
Wie auf ihrer bunten Brücke
Iris durch den Himmel schwebt,
9. So ist jede schöne Gabe
Flüchtig wie des Blitzes Schein;
Schnell in ihrem düstern Grabe
Schließt die Nacht sie wieder ein.
Schiller.
86. Sehnsucht
1. Ach, aus dieses Thales Gründen,
Die der kalte Nebel drückt,
Könnt' ich doch den Ausgang finden,
Ach, wie fühlt' ich mich beglückt!
Dort erblick' ich schöne Hügel,
Ewig jung und ewig grün!
Hätt' ich Schwingen, hätt' ich Flügel,
Nach den Hügeln zög' ich hin.
2. Harmonien hör' ich klingen,
Töne süßer Himmelsruh,
Und die leichten Winde bringen
Mir der Düfte Balsam zu.
Goldne Früchte seh' ich glühen,
Winkend zwischen dunkelm Laub,
Und die Blumen, die dort blühen,
Werden keines Winters Raub.
3. Ach, wie schön muß sich's ergehen
Dort im ew'gen Sonnenschein!
Und die Luft auf jenen Höhen —
O wie labend muß sie fein!
Doch mir wehrt des Stromes Toben,
Der ergrimmt dazwischen braust;
Seine Wellen sind gehoben,
Daß die Seele mir ergraust.