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220. Die Schwalbe.
220. Die Schwalbe. [IL]
Von R. Meyer.
Charakteristische Tierzeichnungen. Zürich 1833. 8. 82.
Aus einem Zimmer seh’ ich ins Freie hinaus zu dem blauen
Strom, auf grüne, von hellen Bächen durchzogene Matten und hin zum
Gelände, wo Kornfelder und Wiesen wechseln und die Fenster der Hüt¬
ten, belebt im Strahl der Abendsonne, unter dem Schirm der Apfel¬
bäume herüberäugeln. Schwer beladene Erntewagen, mit bunten Krän¬
zen geschmückt, ziehen heim; Schnitter folgen scherzend und singend.
Der Storch schwingt sich vom Neste auf und übt seine Jungen im
Fliegen. Die Schwalben schwimmen in der Luft, durchschneiden sie in
weiten Kreisen immer mit gespannten Flügeln, tauchen wieder unter
auf den Fluß und gleiten über seine Fläche hin. Im Fluge haschen
sie die Mücken weg, im Fluge locken sie einander mit hellem Laut;
die rauschende Welle erspringt sie nicht: dem Falken entgehen sieleicht
und warnen vor ihm die anderen Vögel. Die freie Schwalbe vertraut
dem Menschen. Unter das Gesimse meines Daches hat eine ihren Erker
angemauert; die Jungen strecken die Köpfe hervor und rufen sie; da
kommt sie geflogen, schwenkt vorüber, schließt nochmals den Kreis,
dann blitzschnell trifft sie aufs Nest und schwebend über ihm und flat¬
ternd hält sie eine Fliege; die Jungen zwitschern und schnappen die
Beute weg. Und wie ein Pfeil fliegt die Schwalbe über Strom und Fel¬
der davon. Bald ist sie wieder da und hinter ihr neckend eine andere ;
sie segeln um das Dach; da stürzt die Verfolgte ins Zimmer herein.
Schnell das Fenster zu! Wie sie an den Wänden vorüberstreift und
an der Diele kreist, mit gebogenem Leib, mit gebücktem Kopfe und
breitgefächertem, niedergedrücktem Schwänze, und fest angezogen ihre
Füßchen hält! Das Element ist ihr nicht weit, nicht tief genug, und
sie schlägt jetzt ängstlich die Schwingen, dann setzt sie sich ermüdet
über den Vorhang und kreuzt in Ruhe die langen Flügel. Draußen
singt die Gespielin und wendet das Köpfchen nach jedem Vögelchen,
das vorüberfliegt; nur einsilbig antwortet und wie verzagt die Gefan¬
gene, sie sieht den klaren Himmel, die grüne Landschaft, sie schießt
fort, ach, und stößt den Kopf an die trügerischen Scheiben an, flattert
und taumelt zu Boden. Da hab ich sie gefaßt. „Nur ruhig! Warum
zitterst du?“ Bist doch bei deiner Hütte und in Freundeshand, bist
ja so oft mir um den Kopf geschwärmt, ins Zimmer geflogen, hast
deine Kreise gemacht und alsdann munter dich wieder ins Freie hinaus¬