Full text: [Teil 3 = (6. und 7. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 3 = (6. und 7. Schuljahr), [Schülerband])

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Stürme brausen über die Öde. Bald liegt alles erstarrt unter der weißen 
Decke; Seen und Bäche gefrieren tief hinab; die Bäume krachen, vom 
Frost gespalten; das Wild ächzt hungrig in beit dichtesten Gründen, und 
Rabe, Krähe und Sperling haben längst die Straßen der Städte und 
Dörfer gesucht. Reineke darf das nicht. Die Not treibt ihn dem Walde 
zu. Mit einemmale hebt er die Nase. Seine Augen blitzen. Ein lieblicher 
Duft weht ihm entgegen. Ha, was ist das? Siehe da — mitten in 
der Wildnis ein süß gebratenes Stück Fleisch. Ohne Zögern ist es ver¬ 
schlungen. Und wahrlich! da liegt ein zweites Stück. Reineke steht still, 
Überraschung und Argwohn in den Zügen. Wer ist der unbekannte Spender? 
Er umschleicht auf scheuen Sohlen die Stelle, steht wieder still, legt sich, 
horcht, wirft die Augen spähend umher, springt wieder auf, um wieder 
niederznkauern. Nirgend ein Laut, nur die alten Föhren knarren; nirgend 
eine Spur als die flüchtigen Zeichen, die des Windes Finger in den 
Schnee geschrieben hat. Er betrachtet den Bissen noch einmal: „Wäre es 
eine Falle? — Die Menschenkinder sind voll Args! — Schon mancher 
Edle fiel durch ihre List! — Aber nein — hinweg mit solchen Gedanken!" 
und im Nn ist auch der zweite Brocken hinab. 
O Reineke! Reineke! du bist verloren: — denn dort liegt noch ein 
dritter Bissen. Stier blickt er hin ans die Lockung. Doch der innere 
Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Uub wieder umkreist der Fuchs 
das leckere Mahl; wieder legt er sich, duckt die Ohren vorwärts, rück¬ 
wärts, spitzt sie. Und wieder ist alles stumm: nur die Föhren knarren 
noch immer unverdrossen. Der Fuchs fängt an zu klügeln; aber je länger 
er hinschaut ans den Bissen, desto wirrer wird sein Blick. Es flimmert 
ihm vor den Augen; der Duft betäubt ihn; er kann nicht los, er muß — 
und gält' es sein Leben — er muß hinzu. In einem wilden Satze springt 
er darauf los — da, krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne 
zusammen. 
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor Wut; 
aber es ist nicht Zeit zur Klage; denn Gefahr droht im Verzüge: es gilt 
eine kühne That. Er beißt sich den zerschmetterten Fuß ab und eilt 
hinkend und grimmig von dannen. 
204. Der Wolf. 
Hermann Masius. 
Der Wolf gleicht einem großen Hirtenhnnde, auch in der schmutzig- 
gelblichen Farbe; aber das gedrückte Kreuz und der tückische Blick geben 
ihm den Eharakter schleichender, hyänenartiger Wildheit. Er ist das 
gierigste und nach dem Büren das stärkste unserer Raubtiere. Sein ans-
	        
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