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Stürme brausen über die Öde. Bald liegt alles erstarrt unter der weißen
Decke; Seen und Bäche gefrieren tief hinab; die Bäume krachen, vom
Frost gespalten; das Wild ächzt hungrig in beit dichtesten Gründen, und
Rabe, Krähe und Sperling haben längst die Straßen der Städte und
Dörfer gesucht. Reineke darf das nicht. Die Not treibt ihn dem Walde
zu. Mit einemmale hebt er die Nase. Seine Augen blitzen. Ein lieblicher
Duft weht ihm entgegen. Ha, was ist das? Siehe da — mitten in
der Wildnis ein süß gebratenes Stück Fleisch. Ohne Zögern ist es ver¬
schlungen. Und wahrlich! da liegt ein zweites Stück. Reineke steht still,
Überraschung und Argwohn in den Zügen. Wer ist der unbekannte Spender?
Er umschleicht auf scheuen Sohlen die Stelle, steht wieder still, legt sich,
horcht, wirft die Augen spähend umher, springt wieder auf, um wieder
niederznkauern. Nirgend ein Laut, nur die alten Föhren knarren; nirgend
eine Spur als die flüchtigen Zeichen, die des Windes Finger in den
Schnee geschrieben hat. Er betrachtet den Bissen noch einmal: „Wäre es
eine Falle? — Die Menschenkinder sind voll Args! — Schon mancher
Edle fiel durch ihre List! — Aber nein — hinweg mit solchen Gedanken!"
und im Nn ist auch der zweite Brocken hinab.
O Reineke! Reineke! du bist verloren: — denn dort liegt noch ein
dritter Bissen. Stier blickt er hin ans die Lockung. Doch der innere
Warner erhebt seine Stimme noch einmal. Uub wieder umkreist der Fuchs
das leckere Mahl; wieder legt er sich, duckt die Ohren vorwärts, rück¬
wärts, spitzt sie. Und wieder ist alles stumm: nur die Föhren knarren
noch immer unverdrossen. Der Fuchs fängt an zu klügeln; aber je länger
er hinschaut ans den Bissen, desto wirrer wird sein Blick. Es flimmert
ihm vor den Augen; der Duft betäubt ihn; er kann nicht los, er muß —
und gält' es sein Leben — er muß hinzu. In einem wilden Satze springt
er darauf los — da, krach! schlägt das Eisen die zerschmetternden Zähne
zusammen.
So war der Schlaue doch nicht schlau genug! Er heult vor Wut;
aber es ist nicht Zeit zur Klage; denn Gefahr droht im Verzüge: es gilt
eine kühne That. Er beißt sich den zerschmetterten Fuß ab und eilt
hinkend und grimmig von dannen.
204. Der Wolf.
Hermann Masius.
Der Wolf gleicht einem großen Hirtenhnnde, auch in der schmutzig-
gelblichen Farbe; aber das gedrückte Kreuz und der tückische Blick geben
ihm den Eharakter schleichender, hyänenartiger Wildheit. Er ist das
gierigste und nach dem Büren das stärkste unserer Raubtiere. Sein ans-