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Vierte Abteilung.
212. Niobe.
Niobe, die Tochter des Tantalus, wurde durch die Verheiratung
mit Amphion Königin von Theben. Ihres Vaters stolzer Geist lebte
auch in ihr und verleitete sie, wie jenen, gegen die Götter zu freveln.
Vierzehn blühende Kinder nannte sie ihr eigen, sieben Söhne und
ebenso viele Töchter. Mit Recht wurde sie als die glücklichste unter
allen Müttern gepriesen, und sie hätte es sein können, wenn sie weniger
stolz und vermessen gewesen wäre. Aber in ihrem Glücke überhob sie
sich so sehr, daß sie die Göttin Latona schmähte und die Thebanerinnen
aufforderte, die der Schutzherrin der Stadt schuldigen Ehren ihr zu
erweisen. Die Göttin aber lietz sich nicht straflos kränken. Von Zorn
entbrannt, rief sie ihre Kinder, Apollo und Artemis, herbei und sprach
zu ihnen: „Seht, Kinder, ich, eure Mutter, werde von einer Sterb¬
lichen geschmäht, daß ich nur euch beide zu Kindern habe, und sie
will mich von den Altären und Opfern verdrängen."
Da hüllten sich Apollo und Artemis, zur Rache bereit, in eine
Wolke und eilten gen Theben. Auf einer weiten Ebene vor der Stadt
belustigten sich die sieben Söhne der Niobe eben mit Pferderennen
und Ringen. Der älteste tummelte gerade sein feuriges Rotz, als ihn
ein Pfeil von Apollos Hand mitten ins Herz traf, so datz er tot in
den Staub niederfiel. Zwei andere Brüder rangen, ihre Kräfte
messend, Brust an Brust miteinander. So wurden sie beide von
einem Geschosse durchbohrt. Die übrigen hörten das Schwirren
der Pfeile und wollten fliehen; allein nun folgte Schutz auf Schutz,
bis auch der letzte tot am Boden lag.
Das Trauergerücht durchlief schnell die Stadt. Der Vater
Amphion überlebte dasselbe nicht lange; er stach sich selbst das Schwert
in die Brust. Niobe eilte hinaus auf das Feld, wo die Leichen lagen,
warf sich über die entseelten Leiber ihrer Kinder und erwies ihnen
einzeln die letzten Liebkosungen. Dann erhob sie ihre Arme zum
Himmel und rief: „Sättige jetzt dein grausames Herz, Latona,
an meinem Jammer! Triumphiere, mächtige Feindin, über deinen
Sieg! Aber auch so noch, obschon du mir die schönste Zierde geraubt,
bleibt mir in meinem Unglück ein grötzerer Schatz als dir in deinem
Glücke."
Ihre sieben Töchter standen mit ihr in Trauergewändern vor den
toten Brüdern. Da greift plötzlich eine in die Gegend ihres Herzens
und finkt lautlos nieder. Es war der erste Pfeil, von dem Bogen
der Artemis abgeschnellt. Bald sank wieder eine hin, jetzt wieder,
und so lagen bald schon sechs Töchter zu der Mutter Fützen. Da