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Weidenkätzchen, grüne Moospflänzchen, rosa und weiße Osterblumen,
grüngelbe Haselnußkätzchen und gelbe Primeln zum Vorschein kamen,
da freuten sich alle zusammen und wunderten sich, daß so ganz unbemerkt,
während in der Stadt noch alles winterlich kahl und leer aussah, im
Walde schon wieder der liebe Frühling eingezogen war!
82. Auswanderer.
Ilse Frapan.
Mutter ging mit mir über den Graskeller. Viele Leute und Wagen
waren da. Man mußte immer ausweichen. Ich sah auch viele Straßen¬
bahnwagen. Sie haben da eine Haltestelle. Alle Wagen fuhren sehr
schnell. Alle Leute liefen eilig. Da sah ich auf einmal etwas ganz
Merkwürdiges.
Mitten zwischen den eiligen Leuten, aus den Haustreppen und
sogar auf dem Trottoir saßen Leute ganz ruhig. Es waren ungefähr
sechs Frauen. Ich sah auch einen alten Mann, er saß auf einem Bündel.
Zwei Frauen halten ganz kleine Binder im Arm. Einige Kinder von
fünf oder sechs Jahren liefen bei ihnen herum. Ich zog Mutter am Rock,
daß sie stillstehen sollte. „Was für Leute sind das, Mutier?" fragte ich.
Mutter sagte: „Es sind Auswanderer."
„Wo wandern sie denn hin?"
„Sie wandern nach drüben irgendwo. Wohin weiß ich nicht," sagte
Mutter.
Die Auswanderer sahen ganz anders aus, als die Leute in Ham¬
burg. Sie hatten rote und gelbe Taschentücher um den Kops. Sie hatten
braune Gesichter. Ihre Augen waren schwarz. Sie sahen uns an, als
ob sie traurig wären.
„Mutter, sind die Auswanderer traurig?" fragte ich.
„Ja, Kind, ich glaube, sie sind traurig. Sie haben ihre Heimat
verlassen."
„Wo ist denn ihre Heimat, Mutter?"
„Ich weiß es nicht. Sie ist wohl weit von hier, in Polen oder
Rußland."
„Und warum haben sie ihre Heimat verlassen, Mutter?"
„Weil sie dort nicht leben können. Weil ihre Kornfelder kein gutes
Korn mehr tragen, und weil sie ihre Kühe und Pferde geschlachtet haben
zur Zeit der Hungersnot."