Full text: Anhang zum 1. Band de[s] Lesebuch[s] für Latein- und Realschulen (Band 1, Anhang, [Schülerband])

25 
Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte sie sich um und ver¬ 
ließ den Saal. Alle waren erschrocken; da trat die zwölfte hervor, 
die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch 
nicht ausheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie: „Es 
soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, 
in welchen die Königstochter fällt." 
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gern be¬ 
wahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im 
ganzen Königreich sollten verbrannt werden. An dem Mädchen 
aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt, denn es 
war so schön, sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, 
der es ansah, lieb haben mußte. Es geschah, daß an dem Tage, 
wo es gerade fünfzehn Jahr alt ward, der König und die Königin 
nicht zu Haus waren und das Mädchen ganz allein im Schloß 
zurückblieb. Da ging es allerorten herum, besah Stuben und 
Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten 
Turm. Es stieg die enge Wendeltreppe hinauf und gelangte zu 
einer kleinen Thüre. In dem Schloß steckte ein verrosteter Schlüssel, 
und als es umdrehte, sprang die Thüre auf, und saß da in einem 
kleinen Stübchen eine alte Frau mit einer Spindel und spann 
emsig ihren Flachs. „Guten Tag, du altes Mütterchen," sprach 
die Königstochter, „was machst du da?" „Ich spinne," sagte die 
Alte und nickte mit dem Kopf. „Was ist das für ein Ding, das 
so lustig herumspringt?" sprach das Mädchen, nahm die Spindel 
und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber die Spindel au¬ 
gerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich 
damit in den Finger. 
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie 
auf das Bett nieder, das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. 
Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloß: der 
König und die Königin, die eben heim gekommen waren und in den 
Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen und der ganze Hof¬ 
staat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde 
im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, 
ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief 
ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den 
Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen 
wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf 
den Bäumen vor dem Schloß regte sich kein Blättchen mehr.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.