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B. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder.
auf der Ebene einen faulen, schleppenden Gang. Aufgescheucht aber nehmen
sie blitzschnell eine andere Natur an und gewinnen in kühner Haltung etwas
Schwunghaftes und Geistvolles. Ihre Muskeln werden stramm und elastisch
wie Stahlfedern, und mit dem Winde fliegen sie in herrlichen Sätzen über
Kluft und Eis. Man muß sie selber gesehen haben, um sich einen Begriff
von ihrer staunenswerthen Schnellkraft, von der unbegreiflichen Sicher¬
heit ihrer Bewegungen und Sprünge machen zu können. Von einem
Felsen zum andern setzen sie über weite und tiefe Klüfte und halten sich
im Gleichgewichte auf kaum zu entdeckenden Unebenheiten, schnellen sich
mit den Hinterfüßen auf und erreichen sicher den faustgroßen Absatz, dem
sie festen Auges zuspringen. Ist die Gemse stark angeschossen, so sondert
sie sich von der Herde ab, zieht sich zwischen verborgenes Gestein zu¬
rück, leckt sich unaufhörlich und wird leicht heil, oder sie verendet in
unersteiglicher Kluft ohne Gewinn für den Jäger.
Ihr außerordentlich scharfer Geruch, ihr Gesicht und feines Gehör
und ihr höchst ausgebildeter Ortssinn schützt die Gemsen vor vielen Ge¬
fahren. Wenn sie truppweise lagern, so stellen sie eine Wachtgemse aus,
die, während die übrigen weiden oder spielen, in einiger Entfernung allein
weidet, jeden Augenblick sich umsieht und witternd die Nase in die Luft
streckt. Ahnt sie Gefahr, so pfeift sie hell auf, und die übrigen fliehen ihr
im Galopp nach. Es ist ein heller, schneidender, etwas gezogener Ton,
der wahrscheinlich aus den Vorderzähnen geht. Das schärfste Sinneswerk¬
zeug der Gemse ist ohne Zweifel ihr Geruchsvermögen. Sie wittern den
Jäger, der im Winde steht, in ungeheuerer Entfernung sowohl von der
Seite her als aus der Tiefe, da die in die Höhe steigende erwärmte Thal¬
luft ihnen die Ausdünstung des Menschen zuträgt. Dann wird sofort alle
Sinnenschärfe aufs äußerste gespannt, um den Ort der Gefahr ausfindig
zu machen. Das Ohr und das Auge wetteifert mit der schnobernden
Nase. Der endliche Anblick des Jägers beruhigt sie: sie betrachten ihn
einen Augenblick neugierig. Bewegt er sich nicht, so stehen auch sie stille,
sobald er sich aber rührt, nehmen sie nach einer gewohnten Richtung und
nach einem bekannten, nicht allzufernen Rettungsorte die Flucht. Dabei
geschieht es sehr selten, daß das fliehende, erschrockene Thier sich im Sprunge
an Felswände hin verirrt, wo es nicht mehr vor und rückwärts kann.
Dann balanciert es, mißt rasch den nächsten Absprung, legt sich an dem
Felsen fast auf den Bauch und versucht cs, das Unmögliche möglich zu
machen; es springt in den Abgrund und sucht einen auch nur faustgroßen
Vorsprung zu erreichen, um die Schürfe des Falles durch wenigstens augen¬
blickliches Aufstehen zu mildern. Hat es auch dazu keine Gelegenheit,
so läßt es sich dennoch hinunter, und zwar mit zurückgedrängtem Kopf und
Hals, die Last des Körpers auf die Hinterfüße stemmend, die dann
scharf am Felsen hinunterschnurren und so die Schnelligkeit des Sturzes
möglichst aufhalten; ja die Geistesgegenwart des Thieres ist so groß,
daß es beim Gewahren eines rettenden Vorsprungs im Falle mit Leib
und Füßen noch rudert und arbeitet, um ihn zu erreichen, und so im
Sturze eine krumme Linie beschreibt. Oft zerschellen dann die Gemsen;
doch ist'es sicher, daß sie über 16—18 Fuß breite Klüfte ohne Anstand
setzen, Sprünge in eine Tiefe von 24 Fuß und darüber ausführen und über