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A. Epische Poesie. I. Fabeln und Parabeln.
7. Da sprach das Wasser: „Ich bin so fein,
Man gießt mich in die Flamm' hinein,
Mit Spritz' und Eimer man rennet,
Daß Schloß und Haus nicht verbrennet."
8. Da sprach der Wein: „Ich bin so fein,
Ich spring' aus Marmorbrünnelein,
Wenn sie den Kaiser krönen
Zu Frankfurt wohl auf dem Römer."
9. Da sprach das Wasser: „Ich bin so fein,
Es gehn die Schiffe groß und klein,
Sonn', Mond auf meinen Straßen,
Die Erd' thu' ich umfassen."
10. Da sprach der Wein: „Ich bin so fein,
Man pflanzt mich in die Gärten hinein,
Da lass' ich mich hacken und hauen
Von Männern und schönen Jungfrauen."
11. Da sprach das Wasser: „Ich bin so fein,
Ich laufe dir über die Wurzel hinein;
Wär' ich nicht an dich geronnen,
Du hättest nicht können kommen."
12. Da sprach der Wein: „Nun, du hast Recht,
Du bist der Meister, ich bin der Knecht;
Das Recht will ich dir lassen,
Geh du nur deiner Straßen."
13. Das Wasser noch sprach: „Hältst du mich nicht erkannt
Du wärst sogleich an der Sonn' verbrannt!"
Sie wollten noch länger da streiten —
Da mischte der Gastwirth die Beiden.
128. Die Rehe.
Von Magnus Gottfried Lichtwer. Schriften. Halberstadt, 1828.
„Mein Kind, du wagest dich so kühnlich in den Wald,
Als ob kein Tiger um uns wohne!
Ersieht er dich, so bist du kalt!"
So sagt' ein Reh zu seinem Sohne.
„Wohl," sprach der Rehbock, „sage mir,
Was ist der Tiger für ein Thier?" —
„O Sohn, das ist ein Ungeheuer,
Ein Scheusal von Gestalt; sein blitzend Angesicht
Verräth den Mörder gleicp, sein Rachen raucht von Blute;
10 Der Bär ist so erschrecklich nicht,
Und bei dem Löwen ist mir nicht so schlimm zu Muthe." —
„Gut," unterbrach der Sohn, „nun kenn' ich diesen Herrn!"
Er ging hinweg; sein Unglücksstern