Full text: [Quinta, [Schülerband]] (Quinta, [Schülerband])

daS Ungetüm den Augen des Menschen ganz entrückt würde. Der er¬ 
finderische Geist des Dädalus erbaute zu dem Zwecke das Labyrinth*, 
ein Gebäude voller Windungen und Krümmungen, welche Auge und 
Füße des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge liefen in- 
5 einander wie der verworrene Laus des geschlängelten Flusses Mäander", 
der in zweifelndem Gange bald vorwärts-, bald zurückfließt uud oft 
seinen eigenen Wellen entgegenkommt. 
Als der Bau vollendet war und Dädalus ihn durchmusterte, fand 
sich der Erfinder selbst mit Mühe zur Schwelle zurück; ein so trüge- 
10 risches Jrrsal hatte er geschaffen. Im Innersten dieses Labyrinthes 
wurde der Minotaurus gehegt. Seine Speise waren sieben Jüng¬ 
linge und sieben Jungfrauen, die alle neun Jahre dem Könige Kretas 
von Athen zugesandt werden mußten. 
2. 
Indessen wurde dem Dädalus die lange Verbannung aus der ge¬ 
is liebten Heimat doch allmählich zur Last, und es quälte ihn, bei einem 
launischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen Könige sein 
ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande* zu- 
bringen zu sollen. Sein erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem 
er lange darüber gebrütet hatte, rief er endlich freudig aus: „Tie Rettung 
20 ist gefunden I Mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aus- 
sperren, die Luft bleibt mir doch offen; soviel auch Minos besitzt, über 
sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will ich entfliehen!" 
Gesagt, getan. Dädalus überwältigte mit seiner Erfindungsgabe die 
Natur. Er fing an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ord- 
25nung zu legen, daß er mit der kleinsten begann und zu der kürzeren 
Feder stets eine längere fügte, sodaß man glauben konnte, sie seien 
von selbst ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der 
Mitte mit Leinfüden, unten mit Wachs. Die so vereinigten beugte er 
mit kaum merklicher Krümmung, sodaß sie ganz das Aussehen von 
30 Flügeln bekämen. 
Dädalus hatte einen Knaben namens Ikarus. Dieser stand neben 
ihm und mischte seine kindlichen Hände neugierig unter die künstliche 
Arbeit des Vaters: bald griff er nach dem Gefieder, dessen Flaum von 
dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen 
35 sich der Künstler bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater 
ließ es gerne geschehen und lächelte zu den unbeholfenen Bemühungen 
seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine Arbeit gelegt 
hatte, paßte Dädalus selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit
	        
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